How to «Alleinspiel»?
Wie wir Erwachsene den Raum für das Alleinspiel unserer Kinder schaffen können – Oder: Was Bindungshunger mit Alleinspiel zu tun hat
«Simona, du sagst in deinem letzten Blog-Eintrag, dass es unser Job als Eltern ist, den Kindern den benötigten Raum zu bereiten, um ins echte Spiel zu kommen. Wie sieht das praktisch aus, wenn das Kind in der «Null-Bock-Phase» ist, aber gleichzeitig dringend dieses emergente Alleinspiel braucht und auch nötig hat?»
Doris, Teilnehmerin im eben gestarteten Intensiv-Kurs «Teenager verstehen»
Liebe Doris,
danke für diese wichtige und so berechtigte Frage! Gerne gehe ich in diesem Blog-Eintrag darauf ein.
Gleich vorneweg, der Titel oben ist etwas irreführend: Ich kann dir keine Patentanleitung oder gar -lösung geben, wie (d)ein Kind wieder mehr ins Spiel finden kann. Die gibt es auch nicht, da jedes Kind, jede Familie, jede Geschichte und jedes Umfeld unterschiedlich ist, und da, zumindest in unserer Familie, die Ausgangslage manchmal mit jedem Wochentag und mit jeder Luftdruckveränderung anders aussieht.
Manche Kinder finden spielend einfach ins Alleinspiel, bei anderen funktioniert das aber nicht auf Knopfdruck, insbesondere dann, wenn es das schon lange nicht mehr gemacht hat. Dann braucht es oft einen ganzen Prozess, der uns Erwachsene nicht selten mindestens so betrifft wie unsere Kinder. Dazu gehört ganz viel «von innen heraus verstehen» - also ganz viele Erkenntnisse darüber, was das Verhalten unserer Kinder im Inneren antreibt – und auch ganz viel Bindungskraft.
Zu diesen Voraussetzungen gibt es natürlich einiges zu sagen, doch da du ja grad in einem Intensiv-Kurs drinsteckst, bin ich sicher, dass du bis zum Kursende das nötige Hintergrundwissen hast und es auch wirst umsetzen können.
Aber Stopp: Nach all diesen einführenden Zeilen könntest du ja denken, dass das alles wahnsinnig kompliziert und nur was für Leute mit einem Doktortitel in Erziehungswissenschaften ist…! – Ist es nicht. Spiel ist das Natürlichste der Welt, wir alle kennen es und tragen zumindest den Samen in uns, auch wenn der vielleicht grad etwas verschüttet ist und auf dem Trockenen liegt.
Doch das Wunderbare an Spiel ist, dass es selbstverstärkend ist – wie bei einem Samen: Der braucht zwar die günstigen Bedingungen wie Erde, Wärme, Licht und Wasser, doch wenn der Keimling die Samenhülle mal durchbrochen hat, wächst und wächst und wächst er von alleine (sofern die Bedingungen weiterhin stimmen).
Es ist also unser Job als Eltern für die Bedingungen zu schauen – am Keimling zu ziehen bringt nichts: Er wächst so weder schneller noch schöner.
Was sind also die Bedingungen, damit ein Kind ins Alleinspiel finden kann und wie können wir Eltern diese schaffen? – Hier ein Sammelsurium an Überlegungen und Inputs:
Das Offensichtlichste gleich vorneweg: Je mehr Spiel wir in unseren Familienkulturen haben und je mehr wir Erwachsene in unser eigenes Alleinspiel finden, desto eher folgen uns unsere «Sprösslinge» nach (du weisst schon: Lernen am Modell im Sinne der sozialkognitiven Lerntheorie von Albert Bandura). Deshalb spiel ich dir gerne den Ball zu: Wie und wie oft findest du selbst in dein Alleinspiel? Und wie spielerisch ist eure Familienkultur?
Nicht minder offensichtlich ist die folgende Überlegung: Ist dein Kind wirklich frei um zu spielen, oder ist es am Arbeiten und es bleibt kein Platz für Spiel? – Auch wenn wir die Kinderarbeit abgeschafft haben, bleiben in den oft rappelvollen Stunden- und Freizeitplänen unserer Kinder kaum Zeitfenster für Alleinspiel. Und wenn das Kind dann mal Zeit für sich hätte, sind da nicht nur die Nachbarskinder, die klingen, sondern es steht mit Fernsehern, Tablets, Smartphones oder Konsolen eine ganze Armada an Gadgets bereit, die den Freiraum schwuppdiwupp und oft unbemerkt wieder füllen. Und mehr noch: Diese Gadgets stehen nicht einfach «nur» bereit: Sie locken und rufen unsere Kinder und tun alles dafür, dass sie so oft wie möglich gebraucht und so wenig wie möglich aus den Händen gelegt werden.
Ein erster Schritt muss also sein, überhaupt Zeitfenster für das Alleinspiel zu schaffen, in denen das Kind wirklich Zeit & Raum für sich hat. Nur schon das ist nicht immer ganz einfach und braucht von uns Eltern ein gewisses Bewusstsein für die Wichtigkeit solcher Freiräume mit und für sich selbst - und eine gehörig Portion Bindungskraft, um diese einzuführen/durchzusetzen/zu schützen.
Und auch wenn vielen Eltern bewusst ist, dass die Freizeit von Kindern weder überfüllt noch durchgetaktet sein muss und dass zu viel Screen-Time nicht sinnvoll ist, so sind doch viele von uns blind für das, was wir «Bindungshunger» nennen. Ungestiller Bindungshunger ist einer der ganz grossen Stolpersteine auf dem Weg zu Alleinspiel, gestillter Bindungshunger ist die Vorbedingung dafür. Aber von vorne:
Ich weiss nicht, wie es dir geht, liebe Doris: Wenn ich so richtig hungrig bin, dann geht bei mir nicht mehr viel, dann widme ich mich mit all meinen Ressourcen ganz der Nahrungsbeschaffung. Das ist Arbeit pur – da ist keine Energie mehr frei für was anderes. Beim Bindungshunger ist das genauso: Wenn unsere Kinder für ihr grundlegendstes Bedürfnis – also für Bindung resp. für Nähe und Kontakt - arbeiten müssen, sind all ihre Ressourcen mit solchen Fragen beschäftigt:
Was muss ich tun/wie kann ich zeigen, dass ich normal oder gleich bin wie die anderen?
Gehöre ich noch dazu und wie kann ich meine Zugehörigkeit ausdrücken und bestätigen lassen?
Wie kann ich den anderen meine Loyalität zeigen?
Wie bekomme ich mehr Wertschätzung – für meine Leistungen, aber noch lieber für mein Selbst?
Wie kann ich es anstellen, dass ich gemocht oder geliebt werde – was muss ich hierfür machen oder an mir anpassen?
Solche Gedanken mögen bewusst ablaufen oder unsere Kinder unbewusst als (alarmierende) Emotionen umtreiben, auf jeden Fall brauchen sie Ressourcen. Wenn unsere Kinder Bindungsarbeit leisten, sind sie nicht «free to play» - wie auch: Sie arbeiten ja gerade!
Neben zeitlichen Freiräumen brauchen unsere Kinder also auch die innere Freiheit, um ins Alleinspiel zu finden. Die können wir ihnen geben, indem wir die Verantwortung für ihren Bindungshunger übernehmen, ihn sättigen und sie so von der Bindungsarbeit erlösen.
Wenn unsere Kinder bindungssatt sind und es genügend Freiräume in ihrem Alltag gibt, was brauchen sie dann noch? Inspiration ist hilfreich – keine Anleitung, und auch nicht primär Inspiration via Pinterest oder Franz-Carl-Weber-Katalog, das ist gerade für kleinere Kinder oft mehr Überflutung denn Inspiration. Oft hilft es, das Kind von innen heraus zu lesen oder sich daran zu erinnern, was es als kleines Kind gerne gemacht hat (gebaut, gebastelt, mit Plüschtieren gespielt etc.), das in die Gegenwart zu transformieren und sich mit dem Kind auf die Suche zu machen: Gibt es eine neue Maltechnik, die wir zusammen ausprobieren können und die im Kind das fast erloschene Zeichnungsfeuer wieder weckt? Welche Bau- und Konstruktionsmöglichkeiten können wir unserem Kind anbieten?
Manchmal enstehen im Alleinspiel auch ganz wunderbare Produkte
Und zumindest im Fall meiner Kinder hat Alleinspiel auch immer wieder damit zu tun, dass sie sich kuschelig-wohl fühlen in ihrem eigenen Raum. Kein Wunder also sehen unsere Kinderzimmer nicht so hochglänzend aus wie in «Schöner Wohnen» (ebenso wenig unser Garten), sondern ziemlich DIY-mässig, mit ganz viel Farben und Selbstgebasteltem - unperfekt aber irgendwie doch vollkommen. Manchmal hören sie auch Musik, um ganz ab- oder einzutauchen. Und unnötig zu erwähnen, dass dieser Raum auch sicher sein muss - emotionale Verletzungen wie Beschämung durch ältere Geschwister («Das sieht ja voll doof aus, was du da gebastelt hast…» ) haben da keinen Platz.
Natürlich gibt es noch viel mehr und viel mehr Individuelles dazu zu sagen, wie wir Kinder – oder in deinem Fall deine Tochter – aus der Null-Bock-Haltung heraus wieder ins Spiel führen können. Aber dafür werden wir im Intensiv-Kurs bestimmt genügend Zeit & Raum haben, liebe Doris.
An dieser Stelle einfach noch zwei Punkte:
Bitte behutsam vorgehen, wenn Kinder lange Zeit nicht mehr in echtes Alleinspiel gefunden haben. Sie einfach in einen Raum zu stecken, mit sich selbst und ohne Bildschirme, Anleitung oder Unterhaltung, kann eine ziemliche Grenzerfahrung und letztendlich ein «Schuss hine usse» sein (nach hinten losgehen).
Es ist völlig in Ordnung, wenn Kinder nicht jedes freie Zeitfenster mit Alleinspiel füllen – auch wir Erwachsene brauchen manchmal Unterhaltung, Anleitung, Ablenkung und Co. Wir sollten hier also nicht päpstlicher als der Papst sein – wichtig ist einfach, dass diese Ressource des Alleinspiels in unseren Kindern nicht versiegt.
Voilà, ich hoffe, ich konnte dir einige Anregungen geben, so dass der Same des Spiels in deiner Tochter (wieder) spriessen und ganz von alleine wachsen kann. Denn Spiel ist selbstverstärkend - es tut uns Menschen auf magische Weise so gut, dass wir resp. unsere - wenn der Keimling mal da ist - immer öfter zu ihm finden resp. sie sich immer öfter und leichter von ihm finden lassen.
Ich freue mich auf jeden Fall sehr darauf, im Intensiv-Kurs noch weiter mit dir in das Feld von echtem Spiel einzutauchen,
PS. Mehr zum Thema Spiel auch in unserer aktuellen Podcast-Serie «Echtes Spiel - Zauber und Antwort der Natur».
PPS. Und für alle, die gerne noch mehr verstehen würden - vielleicht sind die Intensiv-Kurse etwas für dich?
Fotos: Simona und Pexels (Pixabay)