Privatschule? Öffentliche Schule? Oder vielleicht doch Homeschooling?

Wie aus meiner Sicht das beste Lernsetting für Kinder aussieht – Oder: Wie sich Schule aus meiner Sicht wandeln sollte

Seit Corona spriessen alternative Lernangebote wie Pilze aus dem Boden. Und in der Schweiz macht die Stiftung Schulwandel im Moment ganz aktiv darauf aufmerksam, dass die öffentliche Schule nicht das Ende der Fahnenstange und ein Wandel dringend nötig ist.

Aber welche Schulform ist denn nun die richtige für (meine) Kinder? Die öffentliche Schule? Eine Privatschule – und wenn ja, welche? Oder vielleicht doch Homeschooling?

Diese Frage wurde mir in den letzten Jahren unzählige Male gestellt…

… und ich habe sie nie beantwortet. Weder ganz pauschal in Kursen noch individuell während Beratungsgesprächen. Und das aus einem einfachen Grund:

Die Frage schiesst am Ziel vorbei!

Nicht auf die Form kommt es an, sondern auf den Inhalt.

Natürlich ist es offensichtlich, dass die beiden zusammenspielen, doch reicht es leider nicht aus, die Form zu ändern, wenn der Inhalt nicht stimmt. Nur weil es keine Noten oder Lektionen oder altersheterogene Klassen mehr gibt, heisst das aus meiner Sicht noch lange nicht, dass der Inhalt stimmt und kindgerecht ist.

Will heissen:

Wer kindgerechte und entwicklungsförderne Lernsettings schaffen will, muss verstehen, was Kinder brauchen, um zu lernen.

Und das heisst auch, dass wir verstehen, was hinter eventuellen Lernblockaden oder Verhaltensproblemen steckt, aber darauf werde ich in meinem nächsten Blog-Eintrag eingehen.

Was also brauchen Kinder, um zu lernen?

Streng genommen lernen wir Menschen ja dauernd: Jeder Eindruck, jede Erfahrung wird von unserem System aufgenommen, verarbeitet und integriert. Aber wenn wir von Ent-falten oder Ent-wickeln sprechen, wenn es also darum geht, dass die Kinder das, was in ihnen angelegt ist, zum Ausdruck bringen können, dann brauchen Kinder vor allem eins:

… Ruhe

Und damit meine ich nicht so sehr Stille oder gar Stillsitzen.

Mit “Ruhe” meine ich einen inneren Zustand: Das Bewusstsein, dass für mich gesorgt ist und gesorgt wird, ein Gefühl von Sättigung und Fülle, das es unseren Kindern erlaubt, aufzubrechen und Neues zu erkunden.

Erst wenn Kinder die Gewissheit haben, dass sie sich um das Grundlegende nicht zu kümmern brauchen, sind sie frei, um zu lernen.

(Hinweis: Pauken, also unter Druck Stoff reinschaufeln, um ihn an der Prüfung wieder auszukotzen und los zu werden, ist was anderes – davon spreche ich hier nicht.)

Das Grundlegende ist im Fall von Kindern zum einen ihre physische und emotionale Sicherheit: Wenn im Kind drin dauernd die Alarmsirene schrillt und alle verfügbaren Ressourcen für den Umgang mit der Bedrohung einfordert („Vorsicht, die im Bank hinten machen sich wieder lustig über mich!“), bleiben keine Ressourcen frei zum Lernen.

Und zum anderen ist damit unser aller Grundbedürfnis nach Nähe und Kontakt, also nach Bindung, gemeint.

Wenn Kinder bindungshungrig sind, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich (Bindungs-)Nahrung zu beschaffen und somit Bindungsarbeit zu leisten.

Das ist ganz ähnlich, wie wenn uns der Magen knurrt: Irgendwann dreht sich jeder Gedanken nur noch ums Essen. Und da Nähe & Verbundenheit unser grundlegendstes Bedürfnis ist, kann es nicht ungestillt bleiben - es meldet sich gar so heftig, dass es das Knurren des Magens zu übertrumpfen vermag!

Bindungshungrige Kinder müssen (!) also auf Nahrungssuche gehen und sind dann entsprechend damit beschäftigt, ihren Bindungshunger auf allen Bindungsstufen zu stillen, indem sie bspw. bestrebt sind, ….

  • über die Sinne mit andere verbunden zu sein - dazu gehört oft auch die Kommunikation via Smartphones („Alles klar bei dir?“ – „Ja, Mann, alles klar. Was geht?“ – „Nicht viel.“…);

  • möglichst gleich oder normal zu sein („Kann ich mit diesen Hosen in die Schule oder werde ich ausgelacht?“);

  • dazuzugehören oder loyal zu sein („Meine Freundinnen treffen sich ohne mich – was ist da los?!“);

  • nach Wertschätzung zu lechzen und alles dafür zu tun („Was muss ich tun, damit Jonas mich cool findet…?”).

Sie sehnen sich nach Zuneigung und danach, so gesehen zu werden, wie sie wirklich sind.

Kurz:

Kinder, die Bindungsarbeit leisten, arbeiten. Und wer arbeitet, hat keine Ressourcen frei fürs Lernen.

… Bindung/Beziehung

Das bringt mich zur untenstehenden Pyramiden-Abbildung aus meinem Intensiv-Kurs „Lernen begleiten“.

 
 

Hier sehen wir, dass tragende & nährende Beziehungen zu Erwachsenen das Fundament der kindlichen Entwicklung darstellen (und dass “Ruhe” darauf aufbaut).

Wie die Wurzeln einer Pflanze geben diese Beziehungen Kindern Halt & Sicherheit und versorgen sie mit den wichtigsten Nährstoffen, die sie zum Wachsen brauchen und die ihren Bindungshunger sättigen.

Solche Beziehungen gelingen nur, wenn die Erwachsenen vor Ort „im Alpha” sind: Wenn sie den Kindern also nicht nur Wärme & Geborgenheit anbieten, sondern auch Ausrichtung & Orientierung. Und genau daran mangelt es leider in manchen Lernsettings – egal ob in öffentlichen oder privaten Schulen oder auch in Homeschooling-Familien….

Nur wenn dieses Fundament stimmt, finden Kindern den Raum, um ihre Emotionen auszudrücken und zu fühlen. Sie brauchen ganz viele Übungsmöglichkeiten und Vorbilder, um diese Energie-in-Bewegung (e-motion) so auszudrücken, dass nichts und niemand dabei verletzt wird. Und auch um die immense Verletzlichkeit zuzulassen, die das Fühlen von Emotionen mit sich bringt, brauchen sie einen sicheren und von Erwachsenen gehaltenen Raum.

… Emotionen

Warum aber brauchen Kinder einen Zugang zu ihren Emotionen, um zu lernen? Spricht Schule nicht vor allem den Kopf an…?!? – Nun, wirkliches Lernen (also nicht „Pauken“) wird angetrieben von Gefühlen! Sie sind der Motor unserer Entwicklung und überhaupt aller Prozesse, auf denen unser schulisches Lernen basiert.

Unsere Kinder brauchen den Zugang zu ihre Emotionen, um…

  • … aus Fehlern oder Scheitern zu lernen. Nicht nur unsere Korrekturen, sondern alles, was auf “selber machen” und somit auf Versuch & Irrtrum beruht, baut darauf auf, dass unsere Kinder fühlen können, dass etwas vergeblich ist. Nur so sind sie innerlich frei und bereit, nach andere Lösungen Ausschau zu halten, statt sich zu verschliessen oder wütend zu werden, weil bspw. der Leim die Holzstücke nicht zusammenhält oder weil der Rechenweg zum falschen Ergebnis führt (mehr gibt es hier nachzuhören).

  • … aus dem Wahrnehmen & Fühlen von inneren Widersprüchlichkeiten zu lernen: Das eigene Verhalten reflektieren (“Wo wollte ich hin, wo bin ich gelandet?”), auf ein Ziel hin arbeiten (auch wenn draussen die Sonne scheint) oder echte Kooperation leisten - all das geht nicht ohne diese Fähigkeit (mehr gibt es hier nachzuhören).

  • … aus reinem inneren Antrieb zu lernen, denn das ist eigentlich nichts anderes als die gefühlte innere Fülle, die zum Ausdruck gebracht werden will, bspw. wenn Kinder eigenen Ideen und Projekten nachgehen und beginnen, Bücher zu schreiben oder Alarmfallen zu basteln (mehr gibt es hier nachzuhören). - Und ja, genau: Das ist die bereits erwähnte innere Ruhe, die hier ins Spiel kommt - also der gesättigte Bindungshunger und somit das Befreit-Sein von Bindungsarbeit.

Fehlt noch der Gipfel der Pyramide, der eigentlich so viel mehr ist als “bloss” die oberste Stufe oder die Krönung:
 

… echtes Spiel

Echtes Spiel ist mehr als “nur Kinderspiel” und es umfasst mehr, als die meisten von uns denken:

Echtes Spiel ist die aktive Form von Ruhe - und somit die Grundlage von Lernen und Wachstum.

Wenn Kinder “echt” spielen, sind sie innerlich völlig frei: Sie müssen keine Bindungsarbeit leisten, ihre Alarmsirene hat Pause, da keine Verletzungen drohen, und all ihre Sinne und Ressourcen sind frei, um neugierig und kreativ neue Felder zu erforschen oder zu vertiefen.

Echtes Spiel dient gleichzeitig auch den Beziehungen, es hilft bspw. schwierige Beziehungsdynamiken zu entspannen. Und es schafft den Raum, um verletzende Emotionen auszudrücken und Verletzliche zu fühlen.

Echtes Spiel ist die Antwort & der Zauber der Natur, der Hand in Hand mit uns Erwachsenen die Bedingungen schafft, die Kinder zum Wachsen und Lernen brauchen.

 
 

Und deshalb sollten die Erwachsenen im Lernsetting alles daran setzen, den Kindern echtes Spiel zu ermöglichen. Denn echtes Spiel ist flüchtig: Es klopft nicht unerbittlich an, wenn wir es vernächlässigen, so wie Schlaf, die passive Form von Ruhe, es tut. Wenn zu viel Unterhaltung, zu viel Leistungsdruck, zu viel Bindungshunger oder zu viel Anweisung etc. vorhanden sind, schleicht sich echtes Spiel oft unbemerkt davon, ähnlich wie Michael Ende es in “Momo” beschreibt.

Für mich stellt sich also nicht die Frage nach der richtigen Lern- oder SchulFORM; die ist aus meiner Sicht sekundär!

Wenn du dich fragst, ob ein bestimmtes Lernsetting das richtige ist für dein Kind, dann schau den Inhalt an und frag dich…

… ob dieses Lernsetting deinem Kind echtes Spiel, innere Ruhe und einen Zugang zu seinen Emotionen ermöglicht. Und ob die Erwachsenen vor Ort “im Alpha” sind und den Bindungshunger der Kinder stillen.

Voilà, das ist es, was ich mir von ganzem Herzen wünsche: Dass der so dringend nötige Schulwandel in diese Richtung geht - egal, ob sich öffentliche Schulen (oder zumindest einzelne Schulhäuser oder Klassen) wandeln, ob neue alternative Privatschulen entstehen oder ob Kinder ihr “Schulzimmer” in den eigenen vier Wänden oder im Wald haben.

Das ist es, was Kinder brauchen. Und das ist es, was unsere Zukunft braucht.

 

PS. Falls du tiefer eintauchen möchtest in diese natürliche Art von Lernen und von Lernbegleitung, ist vielleicht mein Intensiv-Kurs “Lernen begleiten” etwas für dich:

 

PPS. Folgende Schulen sind bindungsbasiert unterwegs und aus meiner Sicht sehr empfehlenswert:

PPPS. Und hier gehts zur Stiftung Schulwandel

Bild: Simona (“Baustelle Schule” in Toffen)

 
Zurück
Zurück

Was tun, wenn die Freundschaft einseitig endet?

Weiter
Weiter

Hilfe, meine Kind tickt aus!