Wie wir uns binden
Die Entwicklung unserer Bindungsfähigkeit über sechs Stufen - ein Überblick
In unseren Podcasts sprechen wir immer wieder von den sechs Stufen oder Wurzeln der Bindung - und in unserer nächsten Podcast-Serie werden wir ab Februar 2022 auch vertieft darauf eingehen. Hier aber schon mal für alle Interessierten und Gwundrigen ein illustrierter Überblick:
Bindung ist für uns die Essenz von Beziehung und meint das uns allen innewohnende Streben und Bewahren von Nähe und Kontakt. Wer je für einen Säugling verantwortlich war, weiss, dass wir alle mit diesem Trieb auf die Welt kommen.
Und wenn wir Bindung etwas grösser Fassen als «nur» Baby-Bonding, dann wird uns bewusst, dass unser Streben nach Nähe und Kontakt – also nach Zugehörigkeit, Wertschätzung, Liebe oder «Gesehen-Werden» – nicht nur das Leben unserer Kinder, sondern auch das Leben von uns Erwachsenen dominiert.
Ein Neugeborenes hat noch ziemlich eingeschränkte Fähigkeiten, um die Bindung an seine Bezugsperson(en) sicherzustellen und so Nähe und Kontakt anzustreben. Doch uns allen wohnt ein viel komplexeres Potential der Bindungs- und Beziehungsfähigkeit inne und dieses entfaltet sich allmählich in sechs aufeinanderfolgenden Phasen. Jede Phase fügt den bisherigen eine neue und komplexere Art von Bindung – also eine komplexere Art, um Nähe und Beziehung anzustreben resp. zu bewahren – hinzu. Es braucht aber günstige Bedingungen, damit sich dieses Potential entfalten kann und wir uns tief an andere binden können.
Wenn die Bedingungen ideal sind, kann in jedem der ersten sechs Lebensjahre eines Kindes eine neue Stufe von Bindung entstehen (wobei wichtig ist festzuhalten, dass es nie zu spät ist, das Potenzial für Bindung zu verwirklichen). Diese Bindungswurzeln sind das Fundament und der Nährboden für unsere menschliche Entwicklung oder Reifwerdung, welche in der nebenstehenden Grafik als abstrakte Pflanze dargestellt ist (mit den drei Reifwerdungsprozessen, die wir in unserer aktuellen Podcast-Serie «Was heisst denn schon reif?!?» beschreiben).
Bindung über die Sinne
Im ersten Lebensjahr binden sich Kinder via ihre Sinne, v.a. via Berührung und körperliche Nähe. Wenn unser Kind uns hören, sehen, spüren, riechen und schmecken kann, weiss es, dass wir nahe sind und sein Überleben somit gesichert ist. (Ja, richtig gelesen, für ein Baby ist diese Bindung grundlegend fürs Überleben – und deshalb ist das Anstreben von Nähe und Kontakt auch ein so tief verwurzelter Trieb in uns).
Bindung über Gleichheit
Im zweiten Lebensjahr, wenn das krabbelnde Kind anfängt, seinen Bewegungsradius zu erweitern, kann es nicht mehr immer körperlich mit uns verbunden sein. Das ist ein Problem – und unsere Kinder lösen es, indem sie anfangen, uns zu imitieren und nachzuahmen. Sie möchten gleich sein wie wir, identifizieren sich mit und bleiben so mit uns verbunden, auch wenn wir physisch getrennt sind. Diese Bindungsstufe ist bedeutsam für die Sprachentwicklung (und für allerlei Influencer, die ihr Geschäftsmodell darauf aufbauen, dass sich Mensch auf dieser Stufe an sie binden 😉).
Bindung über Loyalität und Zugehörigkeit
Im dritten Lebensjahr wird diese Art der Bindung aber zu eng, denn die Indizien mehren sich auch für unsere Kinder, dass sie halt doch nicht in allen Belangen gleich sind wie wir. Das stellt unsere Kinder wiederum vor ein Problem, für welches die Natur ihnen folgende Lösung oder Veranlagung zur Verfügung stellt: Unsere Kinder fangen an, sich via Zugehörigkeit und Loyalität zu binden. «Das ist meine Mama», «das ist unser Auto» - in jedem zweiten Satz finden wir diese Besitzansprüche und Zugehörigkeitsbekundungen. Unsere Kinder möchte jetzt nicht unbedingt mehr sein wie wir, aber sie möchten dazugehören, dabei sein oder mithelfen und stellen sich oft ungefragt auf unsere Seite.
Bindung über Wertschätzung
Ab etwa dem vierten Lebensjahr wird dem Kind der Entwicklungsraum, den diese Art der Bindung ihm gibt, aber zu eng: Es möchte nun nicht mehr nur dazugehören oder uns gleichen, es realisiert nun, dass es einzigartig ist und es möchte in seiner Besonderheit geschätzt werden. Sie lieben es zu hören, wie sehr wir uns über ihre Geburt freuten, wie reich unsere Leben dank ihnen sind - und sie sind sehr empfänglich für Lob und Tadel.
Bindung über «Liebe»
Nicht, dass der bindungsbasierte Entwicklungsansatz Liebe definieren könnte (dieses Feld überlassen wir anderen, der Poesie beispielsweise) – mit Bindung über Liebe ist hier gemeint, dass Kinder, die ein Gefühl für ihre eigene Einzigartigkeit entwickelt haben, ab etwa dem fünften Lebensjahr beginnen, diese Einzigartigkeit auch in ihren Bezugspersonen zu sehen und zu schätzen. Sie schenken uns ihre Herzen und wir werden überschwemmt mit Liebesbekundigungen in aller Form, bspw. mit gemalten Herzen. Es ist diese emotionale Nähe, die ein Kind an uns festhalten lässt, auch wenn es länger von uns getrennt ist (bspw. weil es in den Kindergarten geht).
Bindung über Vertrautheit
Im sechsten Lebensjahr entfaltet sich unter günstigen Bedingungen die tiefste Art der Bindung: diejenige der Vertrautheit. Wenn unsere Kinder uns auf der fünften Stufe ihre Herzen geschenkt haben, so möchten sie nun auch alles teilen, was in ihren Herzen ist: Sie möchten von uns gekannt und gesehen werden, in all ihren Facetten und Schattierungen und ohne Geheimnisse.
Diese Stufe der Bindung «erhebt sich wie eine Oktave über der ersten Stufe der körperlichen Nähe und Vertrautheit und bringt die letztmögliche Tiefe der Beziehung bei gleichzeitiger höchstmöglicher Freiheit für die eigene Persönlichkeit mit sich.»*
Unter günstigen Bedingungen verflechten sich diese sechs Stränge zu einem starken Band, das Nähe und Beziehung auch unter widrigen Umständen (physische Trennung, Misserfolge, Konflikte etc.) gewährleisten kann. Dieses Wurzelwerk bildet das Fundament für unsere menschliche Entwicklung und Reifwerdung.
Und falls dich interessiert, was wir Eltern dazu beitragen können, dass unsere Kinder ihr Bindungspotential ausschöpfen und sich tief an uns binden können: Im Jahreskurs «Kinder mit ganzem Herzen begleiten» gehe ich ausführlich darauf ein.
* Aus: Der Neufeld-Ansatz für unsere Kinder. Dagmar Neubronner, Februar 2015