«Aber, mein Kind kann nicht alleine spielen…»

Warum das Alleinspiel resp. Zeit mit sich selbst grundlegend ist für die Entwicklung unserer Kinder - und warum jedes Kind dieses Potential in sich trägt

 

Alleinspiel kann viele Formen annehmen - von Basteln oder Zeichnen über das Spiel mit Figuren oder Plüschtieren bis hin zum Erfinden von Geschichten oder Liedern (und noch ganz viel mehr)

 
 

«Ich weiss, man sagt, dass es wichtig ist, dass Kinder alleine spielen können… aber ist das wirklich so? Ich meine, mein Sohn spielt so gerne mit seinen Freunden draussen, Fussball zum Beispiel, oder sie gamen drinnen. Er braucht dieses Alleinspiel gar nicht, glaube ich. Auf jeden Fall macht er es nie und wenn ich ihn frage, sagt er, dass es ihm nicht fehlt… Ich glaube, er konnte noch nie mit sich selbst spielen.»

Solche Aussagen und Fragen bekomme ich in Kursen und Beratungen immer wieder zu hören. Und meist muss ich etwas ausholen, um darauf einzugehen:

Zuerst: Ja, Alleinspiel resp. Zeit mit sich selbst zu verbringen, ist wirklich wichtig für unsere Kinder. Also Zeit ohne Stimulation von aussen durch Kollegen, Hörbücher oder Bildschirme; Zeit auch ohne strukturierte Anleitung wie Unihockeytraining oder Harfenunterricht. - Warum Kinder diese Form von Spiel brauchen? Nun, zum einen ist Spiel die aktive Form von Erholung (Schlaf ist die passive Form) und Ruhe und Erholung ist genau das, was unsere Kinder und überhaupt wir alle so dringend brauchen - in diesen turbulenten Zeiten ganz besonders.

Und zum anderen: Wie sollen unsere Kinder in Kontakt mit sich selbst kommen, wenn es weder den Raum noch die Zeit dafür gibt? Wie sollen sie ohne die spielerische Begegnung mit sich selbst ein «Gspüri» für das eigene Innenleben, die eigenen Vorlieben, Grenzen und Werte entwickeln und dann später in der Adoleszenz zu einer eigenen Persönlichkeit heran wachsen? Das geht nicht, wenn der Tag von Morgen bis Abend ausgefüllt ist mit Stimulation, Anleitung, Arbeit oder Unterhaltung. Oder anders gesagt: Wie soll da etwas aus unseren Kindern heranwachsen und zum Ausdruck kommen, wenn wir ständig etwas reingeben oder sie was in sich reinstopfen?

Es ist nur so, dass das alles ziemlich verletzlich ist: Sich und das, was in einem drin ist, zu zeigen - mit allem, was dazugehört und vielleicht verwirrend, widersprüchlich oder ungewöhnlich ist - birgt eine hohe Verletzlichkeit.

Natürlich in erster Linie gegenüber andern, aber auch vor sich selbst: Was, wenn das, was da aus mir heraus kommt und durch mich ausgedrückt werden will, nicht meinem Selbstbild entspricht oder ich mich gegen familiäre oder gesellschaftliche Normen stellen müsste? Und was, wenn ich mich mit mir selbst langweile, ich nichts zu stande bringe…? - Da ist es sehr verständlich, dass Kinder - spätestens ab dem Teenie-Alter - lieber Reissaus nehmen vor dieser Herausforderung, als sich ihr zu stellen. Ablenkungen gibt es heute ja mehr denn je (Stichwort «digitale Medien») - und ehrlich gesagt: Nicht immer sind wir Erwachsenen die besten Vorbilder für unsere Kinder…

Gleichzeitig ist Spiel aus aber genau diesem Grund so wichtig: In echtem Spiel sind wir sicher vor Verletzungen, vor Ablehnung und vernichtenden Gedanken - so was gibt es in der Bubble von echtem Spiel nicht. Wir sind da freiwillig drin und könnten jederzeit raus, wenn wir verletzt werden, und ausserdem ist alles, was da drin geschieht, nicht real, sondern eben «nur» Spiel.

Allerdings: In den ersten Augenblicken, in denen wir aus dem alltäglichen Gedönse aussteigen und Raum machen, damit das Spiel uns findet, ist es immer ein wenig anstrengend - ein klitzekleinwenig nur - aber weil wir mit uns selbst konfrontiert sind, ist es eben immer noch anstrengender als den PC zu starten oder auf die Suche nach anderer Stimulation zu gehen.

Und wie sieht es mit dem Spiel mit Kolleg:innen aus?

Ich habe natürlich nichts gegen das Spiel mit anderen Kindern einzuwenden, wenn es denn wirklich echtes Spiel ist. Da lohnt es sich, genau hinzuschauen, denn oft sind Kinder, die sich draussen in Gruppen tummeln, gar nicht «free to play», sondern am Arbeiten: Sie sind auf Nahrungsuche um ihren grössten Hunger - ihren Bindungshunger - zu stillen. Das heisst, sie arbeiten dafür, normal oder gleich zu sein wie die andern, dazuzugehören oder Wertschätzung und Loyalität zu erfahren erfahren.

 

Babys machen vor allem das: spielend die Welt in und um sich entdecken

 

Und was ist von der Aussage zu halten, dass «mein Kind noch gar nie alleine spielen konnte»?

Nun, es ist gut möglich, dass es schon seeehr lange her ist, dass Eltern ihre Kinder ganz versunken in echtem (emergten) Spiel gesehen haben. Doch jedes Kind ist damit in die Welt gestartet, denn alle Bébés machen genau das, wenn sie gesättigt und zufrieden sind: Sie erkunden spielend die Welt in und um sich, nehmen alles in die Hand und in den Mund und wollen jedes Phänomen der physischen Welt entschlüsseln - sei es die Rassel, die Bauklötze, die Konsistenz Gemüsebrei oder die verschiedenen Effekte, die ein Löffel im Brei hervorzaubern kann.

Wenn ein Schulkind also kaum mehr mit sich selbst ins Spiel findet - sei es mit Lego, Playmobil, Farbstiften oder Kuscheltieren etc. - ist es unser Job als Eltern, ihm wieder den Raum zu bereiten, in dem echtes Spiel es finden kann*. Alle Kinder tragen dieses Potential in sich, nur ist es in einigen Kindern ob all der Anleitung, Stimulation oder Unterhaltung in den Hintergrund gerückt oder vergessen gegangen.

 

PS. Wenn du mehr darüber erfahren möchtest, wie wir Erwachsenen den Raum für das Alleinspiel unserer Kinder schaffen können – in diesem Blog-Eintrag hier geht es genau um das.

PPS. Natürlich sollten wir auch das Thema «Gamen», das die Mutter im obigen Beispiel erwähnt, und überhaupt das Thema «Social Media» näher anschauen - in diesem Blog-Eintrag und vor allem im Mini-Kurs «Vom Kind zum Screenager?!» machen wir genau das.

* Das ist manchmal ein ziemlich langer Weg, der viel Geduld und Achtsamkeit erfordert von uns Erwachsenen - vor allem dann, wenn es Jahre her ist, dass das Kind wirklich mit sich selbst in Kontakt war. Und ganz oft bedingt er auch, dass wir Erwachsenen wieder mehr ins Spiel mit uns selbst finden und Spiel in unsere Familienkultur bringen.

Bild: Simona Zäh & Lavaki, Pixabay

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