Alles Aussehen, oder was?!
Was dahinter steckt, wenn sich bei unseren Kindern plötzlich alles um Äusserlichkeiten dreht – Oder: Wie und warum (angehende) Teenies einen grundlegenden Denkfehler begehen
Wie entspannt gewisse Themen in den ansonsten durchaus fordernden ersten 8-11 Lebensjahren unserer Kinder waren, wird vielen von uns erst mit dem Eintritt eben dieses Kindes in die Pubertät bewusst:
Waren das eigene Aussehen, die Frisur, die Kleidung oder der eigene Körperbau während vieler Jahre kaum von Interesse - oder wenn, dann «nur», um herauszufinden, was die Unterschiede zwischen Männlein und Weiblein sind, wie Schuhbändel geschnürt werden oder dass regelmässiges Kämmen bei langen Haaren halt doch von Vorteil ist –, …
… so scheint sich zu Beginn der Adoleszenz gefühlt die ganze Aufmerksamkeit des (angehenden) Teenies nur noch um Äusserlichkeiten und Fragen wie diese zu drehen: Wie sehe ich aus? Wie meine Haare? Kann ich mit diesem T-Shirt zum Haus raus oder ist das peinlich?
Was bitte schön passiert da gerade?!
Nun, ganz zu Beginn der Adoleszenz geschieht etwas Wundersames und manchmal durchaus auch Befremdliches mit unseren Kindern – und zwar egal, ob sie ganz grundsätzlich gut unterwegs sind im Leben, also ob sie dem Alter entsprechend reif oder eben unreif sind, ob sie tief gebunden sind an fürsorgliche Erwachsene oder ob sie sich an Gleichaltrigen orientieren:
Sie unterliegen einem grundlegenden Denkfehler, dem David Elkind 1967 den Namen «Imaginäres Publikum»* gegeben hat: Sie haben das Gefühl, dass sie dauernd im Scheinwerfer-Licht und im Zentrum der Aufmerksamkeit aller anderen stehen.
Nochmals langsam:
Dauernd.
Im Scheinwerferlicht.
Beobachtet von allen anderen.
Das klingt nicht nur anstrengend, verunsichernd und verletzlich - das ist es auch. Und zwar so sehr, dass sich viele Jugendliche gerne in XXL-Pullies oder hinter heruntergezogenen Baseball-Caps verstecken.
Und was soll das alles?!
So anstrengend diese Phase auch ist, entwicklungspsychologisch macht sie durchaus Sinn: Dank dem Wandel im Bewusstsein können sich unsere Kinder zum ersten Mal von aussen und über sieben Ecken hinweg betrachten: Was denkt mein Pultnachbar über mich, mein Verhalten, mein Aussehen? Oder auch: Was denkt sie, dass er denkt, wie ich ihn sehe? – So was können kleinere Kinder, die die Welt ganz simpel von innen nach aussen wahrnehmen, noch nicht.
Mit der anbrechenden Adoleszenz wird aber genau das möglich und genau hier liegt die Wurzel dieses Denkfehlers:
Da sich (angehende) Teenies zum ersten Mal von aussen wahrnehmen, denken sie, dass alle andern Menschen genau dasselbe tun und somit die Aufmerksamkeit auf ihr Erscheinen und ihr Verhalten lenken.
Und genau deshalb kann der (abgedeckte) Pickel auf der Wange, die nicht zu den Sneakers passenden Socken oder die Unsicherheit, ob man/frau/teenie bei dem Wetter als einzige/r Regenhosen eingepackt hat, zu einem alles andere verdrängenden Thema werden.
Meine älteste Tochter war selbst erstaunt über diese Veränderung in ihr drin. Und obwohl sie den Denkfehler auf einer kognitiven Ebene entlarvt hat, war sie ihm dennoch ausgeliefert. Das klang dann so:
«Mama, ich bin so nervös, weil ich mich dauernd frage, ob alle anderen wahrnehmen, dass ich grad ohne Brille unterwegs bin…! Dabei weiss ich doch, dass mir das bei anderen gar nicht auffallen würde, ausser vielleicht bei meiner besten Freundin.»
«Mama, jetzt ist es wieder so, dass ich richtig aufgeregt bin in mir drin, weil ich glaube, dass mich alle anstarren, weil ich ein neues Bikini habe… Dabei weiss hier doch überhaupt gar niemand, dass mein Bikini neu ist oder wie mein altes ausgesehen hat…!»
Und was heisst das jetzt für uns Erwachsene?
Diese Phase ist anstrengend, beunruhigend und verletzlich für unsere (angehenden) Teenies und das letzte, was sie in diesen Momenten brauchen, sind Eltern, die sie Kraft ihrer Erfahrung belehren wollen («Jeder hat mal einen Pickel und deiner ist so gut abgedeckt, dass man ihn gar nicht sieht!») oder gar beschämen («Nimm dich doch selbst nicht so wichtig!»).
Stattdessen brauchen sie fürsorgliche Erwachsene mit einem grossen Herz und viel Verständnis für den Stress, den so ein Leben im Rampenlicht mit sich bringt. Und die auch mal schnell laufen und ein passendes Paar Socken aus dem Schrank holen – wohlwissend, dass das alles eine Phase ist, die irgendwann auch wieder vorbei geht ;o)
PS. Wer gerne tiefer eintauchen möchte in die grossen Herausforderung der Adoleszenz: Im Intensiv-Kurs «Teenager verstehen» ist das möglich.
* Im Standard-Werk „Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter“ (Robert Siegler et al., Springer Verlag) wird das wie folgt beschrieben: Die im Egozentrismus von Jugendlichen begründete Überzeugung, dass jeder andere Mensch seine Aufmerksamkeit auf die Erscheinung und das Verhalten des Jugendlichen richtet.
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