C’était l’hiver

Reflexionen über Einsamkeit, Trauer & die Kraft der Musik während der Adoleszenz – Oder: Ein später Dankesbrief an meine Franz-Lehrerin

Elle disait que vivre était cruel - elle ne croyait plus au soleil - ni aux silences des églises

Sehr geehrte Frau Jäger

Vielleicht erinnern Sie sich noch an mich? Ich war in einer Ihrer ersten Klassen an der Kantonsschule Trogen, eines von nicht sehr zahlreichen Mädchen in einer von Knaben dominierten Math-Klasse. Falls Sie sich an mich erinnern, dann kaum, weil ich ein Ass in Französisch war (obwohl ich dank meinem leicht fotografisch angehauchten Gedächtnis und dessen Halbwertszeit von 2-3 Tagen ganz passable Noten schrieb). Vielleicht erinnern Sie sich eher an mich, weil ich zusammen mit meiner Kollegin Carmen die Bewilligung hatte, bei einem drohenden Lachanfall (Halbwerts-Zeit von etwa 15 Minuten) das Klassenzimmer jederzeit zu verlassen…?

Ich erinnere mich an Sie als eine junge, noch etwas unsichere Lehrerin – und daran, dass wir Ihnen das Leben ziemlich schwer gemacht haben. Teilweise unwillentlich, weil uns Französisch als Math-Klasse einfach nicht so sehr interessierte - und teilweise auch willentlich. Die Gründe hierfür kenne ich natürlich nicht alle, schon gar nicht all diejenigen meiner Klassenkamerad*innen, aber einer lag bestimmt in Ihrer Auswahl französischer Chansons. Sie erinnern sich? Francis Cabrels Album «Samedi soir sur la Terre» schien es Ihnen angetan zu haben.

 

Sie waren damit zwar sehr modern und zeitnah unterwegs – das Album war eben erschienen und damals eines der meistverkauften Alben in Frankreich. Und mit «Je t'aimais, je t'aime et je t'aimerai...» liessen sich die Zeitformen wirklich prima üben. Aber trotzdem konnten wohl die wenigsten von uns andocken – oder anders gesagt:

Die wenigsten von uns liessen sich auf die Herausforderung ein, die Sie uns jenseits der französischen Sprache stellten – le défi, die Tiefe und Tragweite des Inhalts zu fühlen.

Stattdessen lehnten wir uns dagegen auf, zeigten uns von unserer coolen Seite und feuerten die eine oder andere breite Seite gegen Sie ab.

Aber Sie fragen sich vielleicht, warum ich Ihnen gerade jetzt schreibe? – Nun, vor ein paar Tagen bin ich über Cabrels Lied «C’était l’hiver» gestolpert… und mit den ersten Klängen habe ich mich zurück versetzt gefühlt ins Schulzimmer im «Alten Schulhaus» unserer Kanti…

Elle disait «j'ai déjà trop marché»
Mon cœur est déjà trop lourd de secrets
Trop lourd de peines
Elle disait
«je ne continue plus»
Ce qui m'attend, je l'ai déjà vécu
C'est plus la peine.


… und das verstockte Gefühl im Hals kam wieder auf, die Ahnung, dass da etwas anklingen und auf Resonanz stossen könnte in mir – und das Wissen, dass das genau hier und genau jetzt nicht geht, nicht in diesem Raum, nicht in diesem Rahmen. Der Text war schon damals nicht allzu kompliziert, aber die Tragweite dahinter, die hatte sich mir erst ausserhalb des Schulzimmers erschlossen, während Francis Cabrel mich in meinen eigenen vier Wänden und auf dem Velo begleitete, dort dafür aber richtig.

Elle disait que vivre était cruel
Elle ne croyait plus au soleil
Ni aux silences des églises
Même mes sourires lui faisaient peur
C'était l'hiver dans le fond de son cœur


Und so war es auch vor ein paar Tagen in meiner Küche mitten im Abwasch mit meiner Tochter:

Da war sie wieder, die Einsamkeit, die Verzweiflung, der Alarm und all die Trauer, die meine Jugend begleiteten und die mich in Abgründe blicken liess, die ich so in mir nicht erahnt hatte… Und von denen ich erst vor ein paar Jahren verstand, dass sie ganz normal sind – dass Einsamkeit, Alarm und Trauer zur Adoleszenz gehören wie die Trotzphase zur frühen Kindheit.

Elle disait que vivre était cruel
Elle ne croyait plus au soleil
Ni aux silences des églises
Même mes sourires lui faisaient peur
C'était l'hiver dans le fond de son cœur


Gerade diese Woche habe ich den angehenden Coaches des Magic Campus die Gründe dafür erklärt - und vor allem, …

… dass das alles kein Grund zur Besorgnis ist , solange diese Emotionen gefühlt werden können. Das ist nämlich die grosse Herausforderung der Adoleszenz – dass Teenager ihre Emotionen fühlen können!

Nur so können sie all die Entwicklungsaufgaben auf der Brücke zwischen Kindheit und Erwachsensein meistern und nicht nur gesellschaftstauglich, sondern auch zur individuierten Persönlichkeit werden, mit eigenen Werten und Grenzen, eigenverantwortlich und «inspiriert» im Sinne von beseelt, «indivisible», also nicht mehr weiter teilbar - ein Individuum, halt.

Le vent n'a jamais été plus froid
La pluie plus violente que ce soir-là
Le soir de ses 20 ans
Le soir où elle a éteint le feu
Derrière la façade de ses yeux
Dans un éclair blanc


Und ja, ich werde mich dann wieder sagen hören:

Das ist anstrengend und intensiv, ein Weg mit Höhen und Tiefen, Wirbeln und Windstillen und dem ganzen Spektrum an Farben und Tönen, die uns Menschen zur Verfügung stehen – ein einsamer Weg, gesäumt von unzähligen Versuchungen, die uns nahelegen und schmackhaft machen wollen, die Herausforderung des Fühlens doch auszulassen, sie auszublenden oder an ihr vorbei zu sprinten.

Diese Versuchungen waren schon damals für meine Kohorte und mich nicht unbedeutend, verglichen mit den Screens, die heutige Teenies in ihrer Hosentasche mit sich tragen, waren sie aber doch ein Nasenwasser.

Elle a sûrement rejoint le ciel
Elle brille à côté du soleil
Comme les nouvelles églises
Mais si depuis ce soir-là je pleure
C'est qu'il fait froid dans le fond de mon cœur


Und deshalb, liebe Frau Jäger, möchte ich Ihnen danken – verspätet, aber von Herzen:

Sie haben mir mit Ihrer Liedauswahl das gegeben, was Teenies so dringend brauchen – die Möglichkeit, sich auf spielerische Art und Weise ihren verletzlichen Emotionen zu nähern und sie zu fühlen.

Im Spiel geht das um Welten leichter als in der Realität, denn Spiel ist nie echt, sondern eben «nur» Spiel, man ist nie ganz drin, sondern ein Schritt entfernt vom Epizentrum – und genau deshalb können wir’s wagen zu fühlen. Und Musik ist prädestiniert hierfür! Nicht nur, weil wir schon im Vorherein wissen, dass es uns nicht wegschwemmen wird, weil wir ja nur für eine Song-Länge abtauchen, sondern auch, weil Musik sich an unserem Sensory Gating System im Gehirn kaum aufhalten lässt – auch dann nicht, wenn wir ansonsten gepanzert sind gegen unerträgliche Verletzlichkeit.

Elle a sûrement rejoint le ciel
Elle brille à côté du soleil
Comme les nouvelles églises
Mais si depuis ce soir-là je pleure
C'est qu'il fait froid dans le fond de mon cœur

Dass Ihre Song-, pardon: Chansons-Auswahl bestens gepasst und mir den Spielraum zum Fühlen vor knapp drei Jahrzehnten geöffnet hat, Madame Jäger, das ist mir vor ein paar Tagen in der Küche mit allen Sinnen bewusst geworden: Nicht nur der Text und die Melodie waren bei den ersten Akkorden wieder da, auch die Untiefen der Gefühle von damals.

Merci beaucoup!

 
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