Die Kraft der guten Absicht
Wie wir Kinder ans Steuer ihres Lebens setzen – Oder: Wie wir dank dem Wecken und Nähren «guter Absichten» weniger Schimpfen und Drohen (müssen)
Kennst du solche Aussagen?
«Lernst du eigentlich nie, dass…»
«Es war ja klar, dass du’s vergessen würdest…»
«Ich hab doch gewusst, dass du nur an dich selbst denkst, statt…»
«So wird nichts aus dir werden, wenn du…»
«Dass du auch immer gleich dreinschlagen musst, wenn…»
Ich kenne sie zu Genüge.
Du auch? - Hast du sie auch einst als Kind zu hören bekommen? Und sind sie dir vielleicht auch schon rausgerutscht in Situationen, in denen du ob dem Verhalten deiner Kinder oder Jugendlichen den Kopf schütteln musstest?
Und vor allem: Kannst du dich noch erinnern, wie sich solches Schimpfen und Drohen für dich als Kind anfühlte?
Ich spürte dabei immer viel Druck und Alarm von den Erwachsenen auf mich überschwappen und mich ganz klein werden lassen. Dass dahinter ihre Hilflosigkeit stand, konnte ich als Kind nicht erkennen: Ich nahm nur meine eigene Hilflosigkeit wahr gegenüber dem, was sich da in mir offensichtlich in eine ungute Richtung entwickelte. Da war etwas in mir, dass ich dringend ändern musste - das sagten sie mir deutlich! Nur WIE mir das gelingen könnte – das sagte mir niemand!
Und nur ungerne erinnere ich mich an die beschämende Vermutung, die dann jeweils in mir aufkam: Dass ich vielleicht gar nicht fähig war es anders zu machen, weil das Schlechte bereits ein Teil von mir geworden war – oder, noch schlimmer: Weil in mir drin ganz grundlegend etwas falsch war?
Mittlerweile kenne ich nicht nur die Auswirkungen von Erziehung mit Druck, Alarm und Beschämung - ich weiss auch, dass es prima und viel besser ohne geht!
Natürlich ist es auch bei meinen Kindern so, dass ich manchmal innerlich den Kopf schüttle oder mit den Augen rolle ob ihrem Verhalten, …
… nur mache ich mit meinen Kindern genau das Gegenteil: Statt ihre Unfähigkeit zu unterstreichen oder ihnen schlechte Absichten zu unterstellen, wecke oder nähre ich die guten Absichten in ihnen.
Ich sage also bspw.
«Ah, so doof, dass du XY vergessen hast. Ich weiss genau, dass es dir wichtig war und du es nicht vergessen wolltest.»
«Hat’s wieder nicht geklappt mit XY…? Ich bin sicher, dass du das noch lernen wirst…»
«Ich weiss genau, dass du eigentlich ein friedliches Kind bist und Konflikte nicht mit den Fäusten lösen möchtest. Sind sie einfach wieder mit dir durchgegangen…?»
Wieso ich das so mache?
So setze ich mein Kind ans Steuer seines Lebens und nähre seine Selbstwirksamkeit und die (ersten) Wurzeln eines Gefühls für Verantwortlichkeit. Und noch mehr: Ich veranlasse mein Kind, in die «richtige» Richtung zu steuern – ohne ihm einen engen Handlungsspielraum vorzugeben und so seinen Gegenwille zu provozieren -, denn mit dem Nähren und Wecken guter Absichten pflanze ich in meinen Kindern Werte wie Samen ein.
«Der Weg zu Hölle ist aber doch gepflastert mit guten Absichten», magst du nun vielleicht dieses alte Sprichwort zitieren. – Nun, das sehe ich anders, aber was stimmt: Gute Absichten erzeugen nicht unmittelbare Resultate, ich starte hier «nur» einen Prozess. - Wie Samen brauchen gute Absichten und Werte Zeit, um sich zu entwickeln und Früchte zu tragen resp. sich in konkretem Handeln zu zeigen.
Doch da am Anfang jeder Handlung eine Absicht steht, sind die guten Absichten unserer Kinder goldwert – sie sind das Rohmaterial, das wir nähren sollten, denn auf ihm basiert ihr späteres Handeln.
Kommt hinzu: Während viele Disziplinierungstechniken wie Schimpfen, Drohen oder Bestrafen auf Konfrontation hinauslaufen, erlaubt mir das Wecken und Nähren guter Absichten, auf die Seite meiner Kinder zu kommen und in Verbindung zu bleiben, im Sinne von «Ich weiss, dass du deiner Schwester nicht weh tun wolltest: Du bist ja der grosse Bruder, der sie liebt hat und den sie so bewundert. Aber deine Fäuste sind wieder mit dir durchgegangen… Wir kriegen das schon hin. Ich bin sicher, dass du noch lernen wirst, solche Situationen anders zu lösen!».
Und das ist wichtig, denn nur wenn ich die Perspektive meines Kindes einnehme, kann ich verstehen, wie es so weit kommen konnte. Und nur so kann ich die Hindernisse aufdecken, die meinem Kind im Weg stehen und die es (immer wieder) stolpern lassen. Denn das gehört ja auch zu unserem Job: Dass wir dem Kind nicht nur sein Entwicklungspotential aufzeigen, sondern dass wir ihm vor allem dabei helfen zu reifen, so dass es andere Verhaltensweise zeigen kann. Ein Gespräch könnte sich dann etwa so weiter entwickeln: «Ja, genau, Mama, ich wollte eigentlich gar nicht schlagen… Aber es hat mich so wütend gemacht, dass sie mich beim Spielen beobachtet und alles kommentiert hat und dann auch nicht weg ging, als ich’s ihr sagte.» - Das gibt mir als Mutter dann den Hinweis darauf, dass ich meinen Sohn in seinem Spiel vielleicht besser abschirmen oder zumindest besser hinhören muss, wie sich die Dynamik zwischen den beiden Geschwistern entwickelt.
Und ausserdem: Alles andere ist unlogisch!
Und wenn dir das alles zu pädagogisch klingt: Es gibt auch ein ganz logisches Argument für das Wecken und Nähren guter Absichten. Alles andere ist nämlich schlicht unlogisch! Denn, was wird aus einem Kind, das ständig gesagt bekommt, es sei ein Schläger, egoistisch, vergesslich oder könne keine Mathematik…?!? Und dann noch in Situationen, in denen es sein aufgewühltes Inneres gerade selbst nicht versteht oder es vielleicht ob dem eigenen Verhalten frustriert oder enttäuscht ist? – Genau: Ein Schläger, ein Egoist etc. – also genau das Gegenteil von dem, was wir Eltern oder Lehrer:innen mit unseren Erziehungsmassnahmen eigentlich bewirken wollen. Mit einem Kind zu schimpfen und ihm schlechte oder ungenügend gute Absichten zu unterstellen («Ich hab’s ja gewusst, dass du wieder nur an dich denkst…») oder ihm drohend nahezulegen, dass es vielleicht einfach unfähig ist («Sag mal, lernst du eigentlich nie, dass…») ist schlicht unlogisch! Denn was, wenn es uns glaubt!
Kinder & Jugendliche brauchen ganz dringend Erwachsene, die die guten Absichten in ihnen sehen – am allermeisten in den Situationen, in denen sie sie selbst nicht sehen.
Das wäre dann also quasi mein Vorschlag für einen guten Erziehungs-Vorsatz im neuen Jahr: Die Kraft der guten Absichten nutzen und sich einmal pro Woche in einer Konfliktsituation mit ebendieser guten Absicht des Kindes verbinden, sie wecken oder nähren, statt zu schimpfen oder zu drohen.
Ich bin sicher, dass aus dem «1-Mal-pro Woche» bald ein «1-Mal-pro-Tag» wird, denn es fühlt sich einfach so viel besser an, Kinder auf bindungsbasierte und entwicklungsfreundliche Weise zu begleiten.
PS. Falls du gerne mehr darüber wissen möchtest, wie du gute Absichten in deinen Alltag einbauen kannst - oder falls du generell tiefer eintauchen möchtest in die bindungsbasierte Begleitung von Kindern oder Jugendlichen: Bald starten wieder die viermonatigen Intensiv-Kurse!
Lernen begleiten (Start am 10. Januar)
Teenager verstehen (Start am 18. Januar)
Kinder mit ganzem Herzen sehen (Start am 2. Februar)
Ich würde mich freuen, dich in einem der Kurse begrüssen zu dürfen!
Bild: Familie Zäh