Die Sache mit dem Bindungsstab
Bindungsbasiert ins neue (Schul-)Jahr (2/4) - ein Serie für Lehrerinnen, Lernbegleiter, Kindergärtner und Spielgruppen-Leiterinnen
Dass (kleine) Kinder nicht für Trennung gemacht sind und dass Bindung deshalb so wichtig ist für ihre Entwicklung und auch fürs Lernen, darin sind wir im ersten Teil unserer Serie «bindungsbasiert ins neue (Schul-)Jahr» eingegangen.
Bindung ist aber nichts, was wir auf Knopfdruck herstellen, per Befehlston anordnen oder mit ausgeklügelten Belohnungssystemen erreichen: Bindung ist eine verletzliche Sache, denn wenn wir uns an jemanden binden, begeben wir uns auch immer ein stückweit in dessen Abhängigkeit.
Das ist nämlich der Sinn und Zweck von Bindung: Sie ermöglicht uns und allen anderen erwachsenen Säugetieren, Fürsorge für unseren Nachwuchs auszuüben und im Sinne eines dienenden Alphas für sie zu sorgen. Und sie erleichtert unseren und allen anderen Säugetier-Kindern, sich auf diese Abhängigkeit einzulassen.
In diesem und den nächsten zwei Blog-Einträgen schauen wir uns an, wie das mit der Bindung gleich zum Start des Schuljahres gelingen kann – und ein Schlüsselrolle spielt dabei der Bindungsstab. Was meinen wir damit?
Neue Bindungen sollten bei kleinen Kindern immer über bestehende Bindungen eingeführt werden.
Das Prinzip kennen wir alle aus der Arbeitswelt: Wenn wir eine gute Beziehung zu unserem Chef haben und der einen neuen Teamkollegen vorstellt und erwähnt, dass er mit ihm schon inspirierende Gespräche führen oder prima über Fussball fachsimpeln konnte, dann fällt es dem Neuen und uns viel einfacher, eine Beziehung aufzubauen, als wenn wir den Neuen einfach eines Tages vor dem Kopierer antreffen.
Auf den Spielgruppen-, Kindergarten- oder Schulstart umgemünzt heisst das:
Für das Kind ist es unglaublich wichtig zu sehen und zu erfahren, dass die Mama und/oder der Papa eine (gute) Beziehung zu Frau Lüthi oder zu Herrn Tschanz hat. Und das geht nicht auf Distanz und erst recht nicht online - und dieser Schritt sollte auch nicht übersprungen werden, vor allem nicht bei scheuen Kindern.
Wie wir den Bindungsstab übergeben
Wie geht das jetzt aber konkret mit dem Bindungsstab - wie übergeben wir ihn? - Das Kind muss mit den eigenen Augen SEHEN, dass die Mama oder der Papa eine Beziehung zu Frau Lüthi haben – und das tut es,…
… wenn die Mama/der Papa und Frau Lüthi Augenkontakt haben und sich ein Lächeln und ein Nicken schenken.
So übergeben wir den Bindungsstab und so bauen wir in unserer Kultur Beziehungen auf (und das funktioniert auch mit dem Nachbarn, der Ehefrau und dem Herrn vis-à-vis im Zugabteil so).
Wir brauchen im bindungsbasierten Entwicklungsansatz hierfür den Begriff «Vermitteln», der englische Begriff «matchmake» gefällt mir aber besser: Wir tragen dazu bei, dass etwas «matched» und machen Herrn Tschanz zu einem «match» für unser Kind.
Ein paar Umsetzungs-Idee und -Wünsche
Ganz wichtig und auch wenn es gemeinhin als sehr liebenswürdig und aufs-Kind-bezogen gilt:
Bitte, liebe Spielgruppen-Leiter*innen und Basisstufen-Lehrkräfte, steuert nicht direkt auf das Kind zu, sondern baut zuerst eine Beziehung zum Vater oder zur Mutter auf.
Immer wieder erlebe ich es, dass Kindergärtner*innen ganz liebevoll in die Hocke gehen, das Kind anlächeln und ihr/ihm die Hand hinstrecken – und sich das Kind dann hinter dem Hosenbein des Vaters versteckt. Gerade auch Erwachsene, die Kinder lieb und einen guten Draht zu ihnen haben, wählen oft diesen Schritt und übersehen dabei, dass sie - egal wie freundlich sie auch sind - noch gar nicht eingeführt wurden in das Beziehungsdorf des Kindes.
Sinnvoller ist es, das Kind in den ersten paar Augenblicken zu ignorieren (oder es im peripheren Gesichtsfeld zu behalten) und direkt auf die Eltern zuzusteuern. Hier gilt es, den Augenkontakt zu suchen und ein Lächeln und ein Nicken zu schenken, so im Sinne von «Ah, sie müsse Frau Soundso sein, herzlich willkommen…». – Das ist natürlich schwierig, wenn gleich zehn oder mehr «neue» Kinder kommen, deshalb bietet es sich an…
… an Schnupper-Halbtagen ganz unbedingt und ganz explizit auch die Eltern einzuladen und sie dann auch gleich in den Ablauf des Morgens einbauen. Und wenn das nicht möglich ist, so kann doch vielleicht eine Kaffee-Ecke eingerichtet werden, so dass es Zeitfenster für einen kurzes Austausch gibt (und zwar möglichst so, dass das Kind das mitbekommt).
Meine Lieblings-Variante sähe wohl in etwa so aus: «Liebe Eltern, in der letzten Sommerferien-Woche werde ich immer wieder im Kindergarten/im Schulzimmer am Vorbereiten sein. Falls Sie Zeit und Lust haben, sind Sie herzlich eingeladen, dann ganz unkompliziert und ohne Voranmeldung vorbeizukommen: Ich nehme mir gerne eine Viertelstunde Zeit, sodass sie zusammen mit ihrem Kind bereits etwas Kindergarten-/Schulluft schnuppern und auch wir uns kennen lernen können.» - Diese 15 Minuten sind garantiert gut investiert!
Was wir im Umkehrschluss nicht tun sollten
Wenn Trennung die grösste Bedrohung für (kleine) Kinder ist, dann es für ein Kind auch sehr bedrohlich, wenn es von den Eltern einfach an der Spielgruppen-, Kindergarten-, Schulhaustür abgegeben wird/werden muss, weil die Eltern nicht mit hinein wollen oder dürfen – und zwar auch dann, wenn sie ein paar Meter weiter äusserst freundlich empfangen werden. Ich habe deshalb wenig Verständnis für Schulen, Kindergärten oder Spielgruppen, die den Eltern den Zugang verwehren:
Kinder müssen Unabhängigkeit nicht lehren, indem sie ihr ausgesetzt werden – Kinder müssen gebunden (und reif) genug sein, um sich die Unabhängigkeit selbst Stück für Stück zu erschliessen.
Was wir als Lehrer*innen, Kindergärtner*innen und Spielgruppenleiter*innen sonst noch dazu beitragen können, um nach den Sommerferien «bindungsbasiert» zu starten, in den nächsten zwei Blog-Folgen.
Und wer gerne tiefer eintauchen will ins Thema, findet in unseren Intensiv-Kurse und unserer aktuellen Podcast-Serie mehr «Futter» für weitere Tauchgänge.