Fräulein Rottenmeier und ich

Warum die Gouvernante aus dem vorletzten Jahrhundert eine Freundin von mir ist und ab und an zu Besuch kommt – Oder: Wie wir Ordnung und Disziplin spielerisch herstellen können

So manch eine:r glaubt mir nicht, wenn ich ihr/ihm sage, dass das Fräulein Rottenmeier eine Freundin von mir ist und ab und zu bei uns zu Besuch kommt.

Für alle, die behaupten, Fräulein Rottenmeier nicht zu kennen: Wer die Geschichte von Heidi kennt, die oder der kennt auch das Fräulein Rottenmeier, die Gouvernante im Hause Sesemann, die Heidi das Leben in Frankfurt schwer macht und die weder Kinder noch Tiere zu mögen scheint. Bocksteif und stets aufrecht, mit einem hohen Kragen versehen, «welcher der Persönlichkeit einen feierlichen Anstrich verlieh, der noch erhöht wurde durch eine Art von hoch gebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug», so beschreibt Johanna Spyri das, was für mich einem Hausdrachen nahekommt.

Ja, und eben dieses Fräulein Rottenmeier klopft des Öftern bei uns an, bemerkenswerter Weise fast immer dann, wenn wir am Essen sind – im Hause Zäh ein Vorgang, der wohl in den seltensten Fällen den Ansprüchen einer Gouvernante des vorletzten Jahrhunderts entsprechen würde, da es bei uns zu Tische eigentlich immer lebendig und lebhaft und manchmal eben auch zu laut und zu wild zu und her geht.

Trotzdem (oder gerade deswegen?) setzt sich das Fräulein Rottenmeier dann jeweils schweigend neben mich, bittet kaum hörbar um Erlaubnis und…

… schlüpft in mich hinein.

Im Handumdrehen streckt sich mein Rücken, das Kinn hebt sich nach vorne, meine Augenbrauen verschieben sich um einen mahnenden halben Zentimeter nach oben, meine Lippen spitzen sich zu und schon ermahnt das Fräulein Rottenmeier in mir eines meiner Kinder: «Adelheid, im Hause Sesemann wird das Essen schweigend eingenommen!»  

Und, oh Wunder: Egal, wie laut und wild es gerade noch zu und her ging und wie unerreichbar meine Kinder für meine Bitten um Ruhe und Anstand gerade noch waren - dem Fräulein Rottenmeier ist die ungeteilte Aufmerksamkeit immer gewiss! Und Fräulein Rottenmeier bleibt auch im Austausch mit den Kindern, der sich durchaus ideenreich und pippilangstrumpf-mässig frech gestalten kann, bocksteif, unterkühlt und schneidend klar: «Adelheid, ich muss doch schon sehr bitten: Im Hause Sesemann spricht man nicht in diesem Ton mit Erwachsenen!» Oder: «Barmherzigkeit, Sebastian, diesen Wesen fehlen alle Urbegriffe! Sie sind laut und ungezogen und…»

Nachdem das Fräulein Rottenmeier das kindliche Durcheinander entwirrt, die Lautstärke in unserer Stube gedrosselt und die Aufmerksamkeit wieder in geordnete Bahnen, das heisst, fort vom geschwisterlichen Gezänk, Geschrei oder Rumgehopse hin zu den Erwachsenen, gelenkt hat, verabschiedet sie sich meist wieder unangekündigt und ich finde zurück zu meiner entspannten und weniger steifen Körperhaltung - und meist kann ich mir spätestens zu diesem Zeitpunkt ein Lächeln nicht mehr verkneifen ;o)

Wieso ich die Besuche des Fräulein Rottenmeier trotz unserer vermutlich unvereinbaren pädagogischen Grundsätze so schätze? – Dank ihr kann ich meinen Kindern glasklar und unmissverständlich vermitteln, was mich gerade stört resp. was ich gerne anders hätte – und zwar ohne, dass dabei die Stimmung kaputt geht oder die Beziehungsebene zwischen uns in Mitleidenschaft gezogen wird. Alle drei lassen sich von ihr im Bruchteil einer Sekunde ins Spiel einladen – und zwar in eines, in dem ich den Lead habe. Und weil sie dieses Spiel lieben, bemühen sie sich, mich – pardon: das Fräulein Rottenmeier – im Spielmodus zu halten - und das geht nur, wenn sie ruhiger werden und sich auf mein Energie-Niveau einlassen.

Ich weiss nicht, wie es dem Fräulein Rottenmeier geht, aber für meine Kinder und mich ist das eine Win-Win-Win-Situation: Wir haben die Situation entschärft, ohne dass irgendetwas kaputt ging (weder die Stimmung am Tisch, unsere Beziehung oder meine Nerven resp mein Gehör – Win!), ich habe meine Rolle als «Erziehende» wahrnehmen und die mir wichtigen Werte und Leitplanken vermitteln können (Win!) und wir haben im Spiel das Beziehungsband zwischen uns gestärkt (Win!).

In diesem Sinne wünsche ich allen Eltern ab und zu Besuch vom Fräulein Rottenmeier aus dem vorletzten Jahrhundert,

 

PS. Mehr zum Thema Kinder und Spiel gibt’s im Intensiv-Kurs «Kinder verstehen»

Bild by Simona

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«Mama, erzähl noch was von früher!»