Fühlen statt Füllen
Warum Langeweile ein schwarzes Loch ist - Oder: Warum Langweile ein Geschenk ist und Screens uns davon abhalten, es anzunehmen
Für diesen Blog-Eintrag haben sich mir zwei Einstiege aufgedrängt. Und weil ich mich nicht entscheiden konnte, darfst du nun auswählen:
Einstieg A
Ich mag sie, vor allem seit sie so selten zu Besuch kommt. Und ich finde es schade, dass sie nicht mehr wie in meiner Kindheit an einem verregneten Sonntagvormittag anklopft, wenn es drinnen kuschelig warm ist. Seit ich Mutter bin, klopft sie bei mir höchstens noch am Bahnhof an, in den zweidrei Minuten, die die BLS oft Verspätung hat. Oder am Abend, wenn die Kinder (endlich) im Bett sind oder wenn ich nach einem Kursabend irgendwann nach 22 Uhr meinen PC runtergefahren habe, aber noch nicht «bettreif» bin.
Die Rede ist von der Langeweile - und seit ich verstanden habe, wer sie ist und was sie von mir will, hab ich richtig Gefallen gefunden an ihr. Nur ist das Ganze ziemlich paradox: Je grösser und expliziter meine Einladung an sie, desto kürzer sind ihre Besuche bei mir.
Einstieg B
Wer hier mitliest oder unseren Podcast hört weiss, dass auf der Brücke der Adoleszenz die ganz grossen inneren Herausforderungen auf unsere Jugendlichen warten und dass es zwei Wege über die Brücke gibt: Wer eine eigene Persönlichkeit entwickeln will, muss den Bergweg und nicht den Spazierweg nehmen und dabei einige Hürden überspringen.
Auf diesem Weg brauchen unsere Jugendlichen eine Beziehung zu ihren Emotionen und Gefühlen - und das just in diesem so verwirrenden, turbulenten, alarmierenden und verletzlichen Lebensabschnitt, indem die Versuchungen, dem Fühlen zu entfliehen, nicht nur verlockend, sondern in unserer Zeit auch omnipräsent sind.
Das Beispiel der Langeweile verdeutlicht das ganz wunderbar:
Langeweile? - Ein Loch!
Schauen wir uns das Phänomen Langeweile etwas genauer an: Das englische Wort für Langeweile (boredom) hat seine Wurzeln im (Alt-)Englischen to bore (bohren) resp. a bore (ein Loch). Und was da in diesen langen Weilen ein Loch in uns bohrt, ist nicht etwa die verzögerte Wahrnehmung der Zeit (wie das der Begriff Langeweile suggerieren könnte), sondern zweierlei: Zum einen das Fehlen von emergenter Energie (von lateinisch emergere – auftauchen, emporsteigen), also von eigenen Ideen, Unternehmenslust, Plänen etc., und zum anderen das Getrenntsein von denjenigen, an die wir gebunden sind – also von unseren Liebsten oder Freunden, deren Nähe uns er-füllen würde.
Ein Loch muss doch gefüllt werden…!?!
Ich mag es, Langeweile als Loch zu sehen, denn damit verbunden ist die Frage und der Blick auf die Herausforderung:
Wie gehe ich mit diesem Loch um, wenn meine Kinder sich langweilen oder wenn ich mich langweile?
Was tun also, wenn mich ein kunterbuntlanger Tag mit meinen Kindern und/oder ein intensiver Kursabend abrupt ausspucken und ich wieder mit mir alleine bin, leer und ausgepumpt, ohne auch nur einen kleinen Rest emergenter Energie?
Die in unserer Gesellschaft gängigste und auch mir sehr naheliegende Antwort ist: Von aussen auffüllen! Das hilft instant und darin sind wir gut!
Unsere Standard-Füller sind Essen oder Trinken, Aktivitäten, Unterhaltung und Stimulation – und seit einigen Jahren ist das auf unseren Bildschirmen praktischerweise non-stop verfügbar in Form von 24h-Unterhaltung, 24h-In-Touch-Sein, 24h-News etc.
Diese «Füller» sind nett und in gewissen Situationen auch hilfreich (ein Tee, ein Glas Ramazotti oder eine Schale Müsli nach einem langen Tag sind wunderbar!), nur bieten sie keine wirkliche Lösung für das Loch in uns, sondern bringen nur kurzzeitige Erleichterung. Das reicht vielleicht nach einem Kursabend, hilft aber nicht bei chronisch wiederkehrender Langeweile, denn sobald wir mit Füllen, also bspw. mit Gamen oder Netflix-Serien, aufhören und das Gerät abschalten, ist das Loch wieder da und mit ihm die Lust nach mehr «Füllmaterial».
Das Loch der Langeweile ist quasi ein «schwarzes Loch», das alles verschlingt, was in seine Nähe kommt - ohne Aussicht darauf, dass es je gefüllt sein wird. Gamen, Netflix-Serien und insbesondere Social Media nähren uns nämlich nicht: Sie stillen wie Junk Food ein akutes Bedürfnis - und zwar genau solange, wie wir am Konsumieren sind. Durch den Tag tragen wie ein Teller Spaghetti Bolognese können sie uns nicht.
Wir machen unseren Kindern oder Jugendlichen also nur vordergründig und nur ganz kurzfristig einen Gefallen, wenn wir sie grenzenlos Gamen, Social Media oder das ausufernde Angebot an Serien und Filmen konsumieren lassen.*
Fühlen statt füllen!
Was aber sollten wir resp. unsere Kinder & Jugendlichen sonst tun mit dem Loch in uns?
Wir sollten seine wahre Natur fühlen und herausfinden, was das für ein Loch ist in uns! Nur so lernen wir uns kennen: Wer oder was fehlt mir gerade in meinem Leben - kann ich das fühlen? Was möchte da aus mir herauskommen, vielleicht nur ganz langsam oder zaghaft? Was braucht da erstmal Leerraum, weil ihm (noch) die Kraft fehlt, um etwas zu verdrängen? Kann ich dieses Gefühl grösser und zu einem Teil von mir werden lassen?
Das sind grundlegende Fragen für unsere Kinder und auch für uns Erwachsene – und für unsere Teenies stellen sie sich aufgrund all der Veränderungen, die die Adoleszenz mit sich bringt, mit voller Wucht! Wenn sie den Raum in sich aber dauernd von aussen mit Unterhaltung, Social Media, Gamen etc. füllen, wo bitte findet denn das Raum, was sie in die Welt bringen wollen? Oder anders gesagt:
Wie sollen unsere Kinder mit sich selbst in Beziehung treten und herausfinden, wer und wie sie sind, was sie ausmacht und wohin sie wollen, wenn sie jede lange Weile füllen statt sie zu fühlen?
Und wenn ich schon daran bin, wichtige (und vielleicht auch unangenehme) Fragen zu stellen:
Wie sollen unser Jugendlichen all das lernen und entwickeln können, wenn wir Erwachsenen bei jedem Anflug eines Lochs das Gerät in unserer Tasche zücken und ihnen vorleben, dass es diese Leere zu füllen statt zu fühlen gilt?
Diese Vorbildfunktion ist der eine Grund, weshalb ich mich mit der Langeweile angefreundet habe und mir Mühe gebe, nicht aus Gewohnheit zu dem «Füller-mit-Bildschirm» zu greifen (das gelingt mir manchmal besser, manchmal weniger gut).
Mein anderer Grund, um die Langeweile willkommen zu heissen, ist aber mindestens so gewichtig: Mein Leben ist manchmal so intensiv, so laut und so rappelvoll , dass ich mich erst in der Leere wiederfinde - und mit diesem kostbaren Geschenk unter dem Arm klopft die Langeweile jeweils bei mir an.
* Wenn du dich fragst, wie du deine Kinder oder Jugendlichen hierbei achtsam begleiten kannst, dann ist vielleicht unser Mini-Kurs «Vom Kind zum Screenager?» etwas für dich. Hier erfährst du, welche Auswirkungen Handy & Co. auf die natürliche Entwicklung unserer Kinder haben und wie wir Erwachsene sie entwicklungsfördernd begleiten
PS. Bilder: Saydung89 und Cyndidyoder (Pixabay) und von mir.