Immer dieser Michel

Ein Buch über einen wunderbaren Lausebengel - Oder: Warum gute Absichten zählen und Strafen nichts bringen

 
 

Wer kennt ihn nicht, den Jungen mit den runden blauen Augen und dem hellen wolligen Haar, der auf dem Hof Katthult im schwedischen Lönneberga wohnt, zusammen mit Papa Anton und Mama Alma, seiner kleinen Schwester Ida sowie dem Knecht Alfred und der Magd Lina? Der seinen Kopf in eine Suppenschüssel steckt (und nicht mehr rausbekommt), der immer mehr Männchen schnitzen muss und der zum Schluss doch noch die Welt in Ordnung bringt (so die Titel der drei Einzelbände)?

Als Kind habe ich die Fernseh-Serie aus den 70er Jahren geliebt und jetzt als Mama liebe ich es, meinen Kindern die Geschichten von Michel zu erzählen – und meine Kinder lieben es, in die Welt um Katthult einzutauchen.

Aber halt: Ist da nicht etwas viel schwarze Pädagogik drin?!?

Sind das nicht etwas viele Strafen und Demütigungen, die Michel erfährt, wenn ihn sein Vater hart am Arm packt, schüttelt und in den Tischlerschuppen bringt resp. wenn Michel vor seinem tobenden Vater dorthin flüchtet oder dort gar von seiner Mutter in Schutz gebracht wird - in den Schuppen, den er nota bene auch von innen verriegeln kann? Und wenn er dann stundenlang dort drinbleiben muss, auch wenn draussen grad das grosse Festessen stattfindet - ist das nicht genau das Gegenteil von dem, was wir in unseren Kursen erzählen?!?

Ja, natürlich – das stimmt, absolut! Doch ich brauche das Buch ja nicht, um meinen Kindern mehr oder weniger explizit in Aussicht zu stellen, dass ihnen beim nächsten Unfug oder Ungehorsam Ähnliches drohen könnte! - Nein, für mich ist es ein wunderbar spielerische Gelegenheit, um hinter die Kulissen von kindlichem «Fehlverhalten» zu schauen, …

… denn hinter den allermeisten von Michels Streichen steckt keine böse Absicht, sondern die reine Entdeckerlust und die schiere Unreife eines aufgeweckten und neugierigen Fünfjährigen – und ganz oft hat er auch wirklich gute Absichten.

Mit Unreife meine ich Folgendes: Michel ist fünf Jahre alt und das heisst, dass sich sein präfrontaler Kortex – also der Teil unseres Gehirns, der sich gleich hinter der Stirn befindet – noch nicht so weit entwickeln konnte, als dass Michel zwei widersprüchliche Ideen, Gedanken oder Gefühle gleichzeitig wahrnehmen könnte. Und das ist nicht Michels Fehler, sondern von der Natur her so gedacht (warum das so ist, darauf gehen wir in unserem Kurs Kinder verstehen ausführlich ein).

Michel kann also nicht gleichzeitig die Faszination einer Unternehmung und die möglichen Auswirkungen wahrnehmen und in sein Handeln miteinbeziehen.

Diese Unfähigkeit, zwei widersprüchliche Dinge zur gleichen Zeit wahrzunehmen, kombiniert mit seinem Entdeckergeist und/oder guten Absichten, führt dann in der Kombination dazu, dass es in ganz Lönneberga und ganz Småland und ganz Schweden und – wer weiss – vielleicht auf der ganzen Welt noch nie einen Jungen gegeben hat, der mehr Unfug gemacht hat als dieser Michel.

Beispiele gefällig?

  • Nachdem Michels Lederstiefel am Bach nass wurden, will er herausfinden, ob es auch wasserfeste Stiefel gibt. Er füllt deshalb die Regenstiefel seines Vaters, die ordentlich auf der Treppe vor dem Haus stehen, mit Wasser und wartet ab. Dass sein Vater nach der Mittagspause noch etwas verschlafen aus dem Haus kommen und in die Stiefel steigen könnte, hat er in seiner an sich genialen Versuchsanordnung schlicht und einfach nicht bedacht!

  • Als eine Maus in der Küche gesichtet wird, zögert Michel trotz Fieber nicht lange und will spätabends eine Mausefall aufstellen – nur wo? Warum eigentlich nicht unter dem grossen Klapptisch? Gerade dorthin müsste doch eine Maus laufen, um nach heruntergefallenen Brotkrumen zu suchen. Natürlich nicht gerade unter dem Platz von Michels Papa, da war es nur mager mit Brotkrümeln bestellt. «Wie schrecklich», sagte Michel. «Wenn die Maus nun mal ausgerechnet dorthin kommt und findet keine Brotkrümmel und knabbert stattdessen an Papas grossem Zeh!» –Das durfte nicht geschehen, dafür würde Michel sorgen. Und deshalb stellte er die Mausefalle dorthin, wo sein Papa immer die Füsse hinsetzt. Dann koch er, sehr zufrieden mit sich, wieder ins Bett.

  • Und auch den Blutklösseteig giesst Michel nicht absichtlich auf seinen Papa, der sich draussen vor dem Küchenfenster vom Unfall mit der Mausefalle erholt. Nein, im Gegenteil: Michel schämte sich und bereute seinen dummen Unfug mit der Mausefalle. Nun wollte er seinen Papa wieder froh machen, und weil er wusste, dass sein Papa Blutklösse über alles liebte, nahm er die Steingutschüssel und hielt sie aus dem Fenster. «Guck mal», schrie er jubelnd… - den Rest können wir uns denken.

Mit den Kindern in eine Diskussion kommen

Die möglichen Aus- oder Nebenwirkungen seiner Handlungen kann Michel also noch nicht wahrnehmen – zumindest nicht in dem Moment, in dem er voll und ganz in sein Vorhaben eintaucht und in dem er nicht selten auch euphorisiert ist von seinen guten Absichten. Sein Vater weiss und sieht das nicht – er sieht «nur» das für ihn zweifelsohne oft sehr ärgerliche und manchmal auch schmerzhafte Resultat - und brüllt los.

An diesen Stellen frage ich meine Kinder immer mal wieder, ob es denn okay sei, wenn man mit einem Kind schimpfe oder es gar bestrafe für etwas, das er gar nicht beabsichtigt habe - und v.a. auch ohne es anzuhören, so wie das Michels Vater macht. Und ich kann nur allen Vorlesenden raten, dies mit den eigenen Kindern auch zu tun: Die Diskussionen, die sich daraus ergeben, sind Gold wert.

Meine Meinung: Nein, das ist nicht sinnvoll – wir sollten die Absichten stärker gewichten als die Auswirkungen der Handlung. Was natürlich nicht heisst, dass wir uns nicht ärgern dürfen über den Blutklösseteig auf dem Gesicht oder dass wir nicht klar kommunizieren können, dass es nicht geht, Mausefallen an stark frequentierten Stellen im Haus aufzustellen, zumal noch im Sommer, wo alle barfuss unterwegs sind! Doch wer etwas von Gehirnentwicklung versteht, weiss, dass ein Kind in Michels Alter die Konsequenzen noch gar nicht gleichzeitig miteinberechnen kann!

Auf gute Absichten bauen / gute Absichten wecken

Also kein Bestrafen und Wegsperren, aber was denn dann?! -

Nun, wenn die Svennsons bei mir in Beratung wären, würde ich ihnen an erster Stelle für ihren neugierigen, selbständigen und unternehmerischen Fünfjährigen gratulieren und ihnen in Aussicht stellen, dass das alles eine Sache der Reifwerdung sei und sich entsprechend in ein-zwei-drei Jahren erledigt haben würde, da Michel ja auch das dafür notwendige weiche Herz hat (trotz der vielen Bestrafungen!).

Und natürlich würde ich auch Verständnis dafür zeigen, dass die Begleitung eines solch lebhaften Jungen sehr herausfordernd sein kann – das kenn ich ja aus eigener Erfahrung!

Ganz wichtig fände ich es auch, Michels Mutter darin zu bestärken, weiterhin das Wunderbare in ihrem Sohn zu sehen, das vom Gezeter des Vaters und vom Tratsch im Dorf oft übertönt wird – und das ihn dereinst, so steht es gleich zu Beginn von Band 1, zum Gemeindepräsidenten werden lässt (wenn nur die alte Krösa-Maja das noch erleben würde!). Gerade wenn die Emotionen hochgehen und der nächste Wettlauf in den Tischlerschuppen ansteht, ist es so wichtig, den Blick auf das grosse Ganze nicht zu verlieren!

Und ich würde ihnen raten, Michel statt mit Strafen «mit guten Absichten zu erziehen» – also die guten Absichten in ihm zu bestärken und weitere zu wecken. Denn auf diese Weise können sie nicht nur ihre Werte vermitteln, sondern gleichzeitig auch auf Michels Seite kommen – und dort müssen sie beide, auch der Papa Anton, ganz dringend hin! Nur von dort aus könnten sie sein Herz erweichen für den Unfug, den er angestellt hat – und das ist so wichtig, weil er nur so daraus lernen kann.

Im Tischlerschuppen umgeben von seinen Holzmännchen vor sich hin schmollend, lernt Michel nämlich gar nix – ausser natürlich das Schnitzen (und vielleicht auch, dass er ein hoffnungsloser Fall ist). Eine solche Strafe dient vielleicht Papa Anton als Ventil für seinen Ärger - Michel aber bringt sie in seiner Entwicklung keinen Millimeter weiter (im Gegenteil).

Und, liebe Vorleser:innen - zum Schluss eine kleine Anregung: Fragen Sie bei einer dieser Tischlerschuppen-Stellen doch mal ihre Kinder, wie das klingen könnte, wenn Michels Papa innehält und nach den Absichten hinter dem Unfug fragt oder gar weitere gute Absichten wecken möchte... Oder für Experimentierfreudige: Fragen Sie Ihre Kinder, ob sie sich schon einmal wie Michel gefühlt haben und was ihnen in der Situation geholfen hätte…

Viel Spass beim «Vorlesen enhanced» ;o)

 

PS. Kennst du schon unsere Serie «Kinderbücher durch die bindungsbasierte Brille» mitsamt unserem Plädoyer für Vorlesekulturen?

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