Ist das Gamen meines Kindes problematisch?
Ein Sammelsurium an Überlegungen, die dir helfen, diese Frage für dein Kind zu beantworten – Oder: Was Games mit Süssem zu tun haben
In den letzten Wochen wurde die Frage im Titel von zahlreichen Seiten an mich herangetragen, meist mit zwei, drei Sätzen zum Kind und zu dessen Gameverhalten. Und wohl immer mit der Hoffnung auf eine einfache Antwort inkl. Handlungsanweisung.
Aber einfache Antworten auf komplexe Fragen sind immer mit Vorsicht zu geniessen, zumal wenn sie von Aussenstehenden kommen, die – so wie ich in diesen Fällen - so gut wie nichts über das Kind oder dessen Familie wissen.
Also gab es von mir auf all die Fragen wohl kaum befriedigende Rückmeldungen, was ich zum einen bedauere, da ich den Leidensdruck und die Hoffnung nach Orientierung aus einigen Fragen förmlich rausspüren konnte. Zum anderen finde ich das aber auch ganz prima so, denn…
... es geht nicht darum,
dass dir jemand sagt,
in welcher Situation du
was tun sollst.
In dir
die Antwort zu finden,
das ist der Weg -
auch in Bezug aufs Gamen.
Im Folgenden ein paar Überlegungen, die dir vielleicht dabei helfen, für dich selbst deine ganz persönliche Antwort auf die Frage im Titel zu finden:
1. Kinder* brauchen keine digitalen Games
… um gross und stark und glücklich zu werden, ganz im Unterschied zu sinnlichen Erfahrungen in der realen Welt wie auf Bäume klettern, Teig kneten, Tiere beobachten, Streit lösen oder den Wind-im-Haar spüren. Wenn du dir also die Frage stellst, ob das Gameverhalten deines Kindes kritisch ist, dann sollte dir bewusst sein, dass wir hier von etwas sprechen, das es im Leben des Kindes vorerst gar nicht zu geben braucht (im Gegensatz zu Beziehung, Essen, Schlaf, echtem Spiel, Bewegung, frischer Luft etc.).
Mir ist natürlich bewusst, dass viele Kinder in Settings aufwachsen, in denen sie früh & oft mit Games in Kontakt kommen und in denen viele Gleichaltrige gamen. Und mir ist auch bewusst, dass es laute Stimmen gibt, die vermitteln, dass Gamen zu einer Kindheit im 21. Jahrhundert schlicht dazugehören muss… Das tut aber alles nichts zur Sache und macht Games für die kindliche Entwicklung nicht wichtiger!
Dasselbe gilt übrigens auch für all die gamifizierten digitalen Lernangebote: Alles, was da gelernt wird, können Kinder ebenso gut, wenn nicht besser, in der analogen Welt lernen. Und ja, solche Lernsettings zu kreieren braucht in manchen Fällen etwas mehr Engagement von uns Erwachsenen als ihnen einfach das Tablet in die Hand zu drücken…
Die reale Welt mit allen Sinnen zu erfahren ist nicht nur für ihre körperliche Entwicklung unserer Kinder grundlegend, sondern auch für die emotionale und psychologische. Ich kann dem Begriff der Inneren Medialität von Dr. Bert te Wildt** viel abgewinnen: Er meint damit unseren persönlichen geistigen Binnenraum, in dem wir uns «selbst erleben, uns in unseren Gefühlen und in unserem Denken wahrnehmen können» und wo wir die Möglichkeit haben, «Dinge vor unserem inneren Auge auftauchen zu lassen und sie anzuschauen, uns Geschichten auszudenken, Fantasien nachzugehen und zu träumen.» Dieser Raum ist wichtig, damit wir es, wenn alle Medien ausgeschaltet sind «nicht nur gut mit uns aushalten, sondern uns auch in unserem Inneren geistig und emotional bewegen können», so dass wir uns «trotzdem mit der Welt und unseren Bezugspersonen verbunden fühlen können.»
Unsere Kinder kommen mit dieser inneren Medialität auf die Welt – genauer gesagt sind sie als Babies wohl immer in diesem Zustand. Unser Job sollte sein, ihnen zu ermöglichen, diese innere Medialität weiter zu entwickeln und zur eigenen inneren Achse werden zulassen. Und das geht nur, wenn unsere Kinder Zeit & Raum haben, um mit sich und ihrem Binnenraum in Beziehung zu gehen – bspw. im Alleinspiel. Wenn Games (oder schulisches Lernen, Unterhaltung oder angeleitete oder leistungsorientierten Aktivitäten etc.) diesen Raum dauernd kapern, wird es schwierig.
2. Games sind ähnlich wie Süsses
Vielen hilft es, Games ähnlich wie Süsses zu betrachten und zu behandeln. – Süsses ist ja nicht per se das Problem – Himmel hilf!
Das Problem mit Süssem ist zum Beispiel die Menge an sich: Ich denke (und hoffe!), heute wissen alle, dass zu viel Zucker nicht gesund und ein riesiges Gesundheitsproblem ist. Und zum anderen gilt es, das Verhältnis zu beachten zu dem, was unsere Kinder sonst noch so in sich reinbaggern.
Dasselbe gilt fürs Gamen: Wie sieht es mit der Gamezeit deiner Kinder aus? Gamen sie ab und zu oder gamen sie täglich? Gamen sie kurze Einheiten oder bringst du sie kaum mehr vom Bildschirm weg? - Oder anders gefragt: Was machen deine Kinder sonst den lieben langen Tag? Haben sie viel Freiraum für echtes Spiel? Bewegen sie sich viel an der frischen Luft? Oder verbringen sie fast den ganzen Tag sitzend in geschlossenen Räumen? Gibt es genügend Freiraum, damit etwas aus ihnen heraus zum Ausdruck kommen kann – oder gibt es viel mehr «inflow» als «outflow» - also mehr Konsum, Unterhaltung oder schulische Lerninhalte?
Die Analogie zu Süssem können wir aber noch weiterspielen:
Bei Süssem berechnen wir ja Alterseffekt mit ein: Bei Säuglingen sind wir noch eher (oder sehr) zurückhaltend mit Süssem und lassen dann mit zunehmendem Alter der Kinder/Teenies die Zügel immer lockerer. Dasselbe sollte auch fürs Gamen gelten, wobei hier die Altersangaben nicht so relevant sind wie die Reife des Kindes. Wichtig sind Aspekte wie: Kann das Kind seine Impulse kontrollieren? Kann es auch mal ein Nein akzeptieren, ohne gleich in Kriegsgeheul auszubrechen? Konnte es seine körperlichen Fähigkeiten entfalten – kann es Purzelbäume, Ballspiele, Slacklinen, Rollerbladen und solche Dinge? Und vor allem: Hat es das «Gspüri» für sich behalten und weiter entwickeln können? Hat es eine Beziehung zu sich selbst und ist es auf dem Weg zu einer eigenen Persönlichkeit? Für die meisten Kinder gilt das erst, wenn sie etwas älter und näher bei 10 als bei 5 Jahren sind… Wie schätzt du dein Kind ein?
Bei Süssem wissen wir ausserdem, dass Kinder unterschiedlich sind: Manche stecken viel Zucker einfacher weg, manche werden schon beim Anblick von Schoggi ganz hibbelig und überdreht. Und bei manchen wird aus dem «Gluscht» schneller etwas Zwanghaftes, während andere den angeknabberten Osterhasen ewig rumstehen lassen können. – Übersetzt in die Gamewelt heisst das, dass wir unsere Kinder genau beobachten sollten: Manch ein Kind mag völlig relaxed aus der Gamewelt heimkehren, ein anderes dagegen völlig überdreht – oder, Vorsicht: völlig «brain dead» (hirntot) - also völlig weggetreten oder übervoll von all den Stimuli. Und manche Kinder können nach einer Gamesession prima ein paar Stunden oder Tage ohne sein, bei anderen dreht sich direkt nach dem Gamen bereits alles wieder um die nächste Session. Wie ist das bei deinem Kind?
Und dann gibt es auch bei Games den Gewöhnungseffekt, den wir ja auch von Süssem kennen. Wer sich daran gewöhnt hat, jeden Tag nach dem Essen ein Dessert zu schnabulieren, dem wird nur dessen Fehlen negativ auffallen und erst ein zusätzliches Eis oder Stück Schoggi zum Zvieri als das erscheinen, was es eigentlich sein sollte: Ein Genuss, der uns das Leben ganz punktuell versüsst.
Und auch diese (vielleicht wichtigste kulinarische) Analogie passt aus meiner Sicht:
Wie auch bei Süssem sollten wir auch bei Games darauf achten, dass unsere Kinder zuerst die Hauptspeise essen und somit die gesunde und für ihre Entwicklung wichtige Nahrung (Bewegung, Beziehungen, echtes Spiel und echte Ruhe) aufgenommen haben. Erst dann kommt die Nach-Speise, denn wir alle wissen: Wenn die Nachspeise zur Vorspeise wird, verdirbt sie den Appetit auf die Hauptspeise, statt ihn zu schüren.
Und noch meine letzte Analogie: Ich liiiiebe es, mit meinen Kindern zu backen und gemeinsam am Tisch mit einem feinen Kuchen einen Anlass oder auch einfach uns als Familie zu feiern. In solchen Bindungs-Settings hat Süsses für mich eine ganz andere Konnotation als wenn jemand alleine Süsses isst oder gar als Ersatzbefriedigung in sich reinstopft, vielleicht noch irgendwie nebenher zu einer anderen Tätigkeit. - Bei Games ist das ähnlich: Gemeinsames Gamen am Freitagabend oder Sonntagnachmittag ist was ganz anderes (und viel nährender) als wenn sich Kinder quasi direkt als «Ausgleich zur Schule» an den Bildschirm setzen und dort alleine Stunden verbringen.
3. Wie steht mein Kind grundsätzlich im Leben?
Aber genug der kulinarischen Analogien. Meine liebste Antwort auf die Frage im Titel ist folgende Gegenfrage, die den Fokus weg vom Gameverhalten und hin zum Kind lenkt: Wie steht dein Kind denn grundsätzlich im Leben? Damit meine ich:
Ist es wohl mit sich, seinem Körper, seinem Umfeld, seinem Leben?
Wirkt es glücklich?
Ist es gesund?
Sprudelt es vor lauter Energie, Neugier, Ideen und kindlichem Staunen über die Welt?
Kann es – altersgerecht - über sein Innenleben und seine Gefühle sprechen, auch über die Zarten & Verletzlichen? Und kann es sie fühlen?
Findet es zur Ruhe, kann es sich von Stress & Widrigkeiten erholen und neuen Tagen, neuen Wochen, neuen Herausforderungen entsprechend ausgeruht begegnen?
Ist es daran, Wege und Möglichkeiten zu finden, um das, was aus ihm gelebt werden will, zum Ausdruck zu bringen – oder hat es solche Felder bereits gefunden?
Wenn du all das mit JA beantworten kannst, wird das Gameverhalten deines Kindes kaum problematisch sein.
Und wenn nicht, dann würde ich dir empfehlen, den Fokus genau hier drauf zu legen und dem Kind mehr von all dem zu ermöglichen.
Und wenn du mir jetzt sagst: «Simona, das versuche ich ja! Ich mache Angebote, ich lade es ein… nur kommt das Gameverhalten meines Kindes all dem in die Quere! Ich komme gar nicht mehr an es ran!» Ja, dann hast du dir hiermit wohl gleich selbst die Antwort auf die Frage im Titel gegeben…
… und ich bin mit dir einverstanden, dass das keine angenehme Erkenntnis ist. Wir sind hier je nach Game mit einem unglaublichen mächtigen Gegenspieler konfrontiert, der sich perfekt tarnt und sich erst noch nicht richtig fassen lässt! Wir können ja nicht wie bei anderen Problemen einfach mal bei den Eltern des Schulkameraden klingen und unser Anliegen im Gespräch klären…
Vielleicht fragst du dich nun, wie du dich von dieser Erkenntnis aus auf den Weg machen kannst…?
Nun, du brauchst zum einen eine klare Haltung – und zwar nicht nur betreffend Games, sondern vor allem in Bezug auf das, was Kinder wirklich brauchen. Und wenn du diese Haltung hast, dann brauchst du zum anderen auch noch ganz viel natürliche Autorität – also ganz viel Bindungskraft oder «Alpha» - um dein Kind begleiten und deine Haltung im Alltag leben zu können. Falls du denkst, dass du da noch Luft nach oben hast, würde ich dir raten, erstmal in die Beziehung zu investieren, bevor du dich dem Game-Thema widmest.
Ich hoffe, all diese Überlegungen helfen dir, die Frage im Titel für dich und für dein Kind beantworten zu können,
PS. Wenn du mehr darüber erfahren möchtest, wie wir die Bindung zu unseren Kindern pflegen und ihnen all das geben können, was sie brauchen: In meinem Jahreskurs «Kinder mit ganzem Herzen sehen» (Start im August) steht genau das im Fokus. Vielleicht bist du ja dabei…?
* Mit Kindern meine ich Kinder bis etwa 9-10 Jahre.
** Nachzulesen hier in Kapitel 11 des Buches “Analog vor Digital”
Foto: Dixit Dinakhara, unsplash