«Just quick fixes»

Welche Auswirkungen die Digitalisierung auf die natürliche Entwicklung unserer Kinder und Jugendlichen hat - Oder: Warum schnelle Lösungen (quick fixes) und Abkürzungen auf lange Sicht nichts bringen.

Die Vorteile der Digitalisierung liegen auf der Hand – für jedermann, auch für mich, die ich podcaste, blogge und via Zoom Beratungen und Kurse anbiete. Gleichzeitig gehört die analoge Welt meiner Kindheit mit Kabeltelefonen und Röhrenfernsehern wortwörtlich in ein früheres Jahrtausend - dabei sind gut 40 Jahren in der Menschheitsgeschichte doch ein Klacks!

Die Digitalisierung hat uns überrollt, wie Revolutionen das so in sich haben, und mir scheint, dass wir so viel Zeit und Energie darauf verwenden (müssen), um mit ihr Schritt zu halten, dass wir es kaum schaffen, innezuhalten und uns zu fragen, was denn – neben all den offensichtlichen Vorteilen und Sonnenseiten – die Schattenseiten dieser Entwicklung sind? Und vor allem welche Auswirkungen sie auf die natürliche Entwicklung unserer Kinder und Jugendlichen hat?

Wir brauchen einen Ausguck!

Uns (und den nächsten Generationen) fehlt der Blick durch den historischen Rückspiegel, der uns bspw. hilft, die Auswirkungen des Buchdrucks oder der industriellen Revolution auf unsere Gesellschaften zu verstehen. Wie aber können wir inmitten dieser Umwälzungen den Kopf nicht nur über Wasser halten, sondern die Perspektive aus einem Ausguck einnehmen, so dass wir – wohlwissend, dass die Entwicklung nicht aufzuhalten ist - zumindest herausfinden, wie und in welche Richtung wir unser eigenes Schiff steuern sollen, als Gesellschaft und als Individuen?

Der Blick durch die Brille des bindungsbasierten Entwicklungsansatzes liefert uns wertvolle Insights, um für unsere Kinder und unsere Schulen sinnvolle Antworten zu formulieren und entsprechende Konsequenzen abzuleiten. Dr. Gordon Neufelds Lebenswerk kommt hier in vollem Ausmass zum Tragen: Nur wer über eine umfassende Theorie der menschlichen Entwicklung verfügt und die Implikationen für die Betreuung und Begleitung von Kindern versteht, kann diese Fragen überhaupt fassen und umfassend beantworten.

In a nutshell? – It’s a quick fix!

Ausgehend von der Feststellung, dass unsere Kinder auf Informationen zugreifen, sich selbst unterhalten und sich mit anderen verbinden können wie nie zuvor, bringt der Blick durch die Brille des bindungsbasierten Entwicklungsansatzes Licht in die Schattenseiten dieser Entwicklung.

 
 

Um es auf den Punkt oder in eine Nuss-Schale (nutshell) zu bringen: Die Digitalisierung liefert uns schnelle Lösungen (quick fixes) für ganz grundlegende Probleme und Wünsche, die uns schon seit Menschengedenken begleiten.

Das ist schön und verlockend und in manchen Situationen auch hilfreich, nur bringt es uns auf lange Sicht nicht weiter:

Jedes Mal, wenn wir die Abkürzung wählen (dh. uns mit dem Heli auf den Gipfel fliegen lassen), verpassen wir den Weg, den die Natur eigentlich und auf wundervolle Art für uns bereitet hat und auf dem wir lernen und reifen sollten.


Das Beispiel «Beziehungsfähigkeit»

Beispiel gefällig? Die Digitalisierung ermöglicht uns verbunden zu bleiben, auch wenn wir getrennt sind. Das ist auf den ersten Blick wunderbar, denn von unseren Liebsten getrennt zu sein ist – in all seinen Facetten – unser allergrösstes Problem. Auf den zweiten Blick - oder eben durch die Brille des bindungsbasierten Entwicklungsansatzes - sehen wir aber, dass damit immense Kosten verbunden sind:

Wenn stets ein «quick fix» zur Hand ist, gibt es keinen Grund, unsere Beziehungsfähigkeit (unser Bindungspotential) zu entwickeln!

Wir bleiben also in unserer Entwicklung stecken, zumindest besteht diese Gefahr für die «digital natives» - diejenigen von uns, die sich zu den «digital immigrants» zählen, hatten ihre Beziehungsfähigkeit hoffentlich schon einigermassen ausgebildet, als sie mit dieser Entwicklung in Kontakt kamen.

Der Blick durch unsere bindungsbasierte Brille hilft, in Sachen Bindungs- oder Beziehungspotential klar zu sehen: Wir gehen von sechs aufeinanderfolgenden Phasen der Bindungsfähigkeit aus, die sich erst allmählich entwickeln, wobei jede dieser Bindungsstufen eine neue, komplexere Art der Bindung zu den bisherigen hinzufügt, bis hin zur Fähigkeit zu psychologischer Intimität und Vertrautheit (mehr dazu in diesem Blog-Eintrag oder in dieser Podcast-Folge).

Dieser Prozess läuft spontan ab, wenn die Bedingungen günstig sind, aber er entfaltet sich nicht zwangsläufig. – Provokativ formuliert: Wenn wir unseren Kindern zu früh und ohne Grenzen digitale «devices» in die Hände legen, ist die Chance gross, dass die meisten von ihnen auf der zweiten oder dritten von sechs Bindungsstufen stecken bleiben, mit immensen Auswirkungen auf ihre menschliche Reifwerdung.

«Quick fixes» haben es nämlich in sich: Sie funktionieren ähnlich wie Zucker und wirken kurzfristig ganz prima, nur sind sie nicht nährend, sondern wecken nach kurzer Zeit ein Verlangen nach mehr und bergen somit ein grosses Suchtpotential.


Nicht nur Mehrwert, sondern auch Kosten!

Wenn wir in Familien das Was?, Wann? oder Wie lange? diskutieren, wenn es um den Gebrauch von digital devices geht oder wenn in unseren Schulen im Moment oft die (berechtigte) Frage nach dem Mehrwert von BYOD, papierlosem Unterricht oder bestimmten Apps etc. gestellt wird, …

… erscheint es mir unerlässlich, neben dem Mehr- und dem Unterhaltungswert auch die Kosten auf die Waage zu werfen. Wir Eltern und Pädagog*innen sollten auch das Wissen um diese (versteckten?) Kosten vor Augen haben, wenn wir unsere Kinder und Jugendlichen in die digitale Welt begleiten!


Im Mini-Kurs «Vom Kind zum Screenager?!?» beleuchten wir diese oftmals versteckten Kosten, so dass sie zu einem weiteren Gewichtsstein auf der Waage werden können, wenn wir uns als Eltern oder Pädagogen Fragen rund um digitale (Lern-)Kulturen stellen.

 

PS. Eins sei noch klargestellt: Der Mini-Kurs liefert weder einfache Antworten noch einfache Methoden für den Umgang mit digital devices - es geht um Erkenntisse und Einblicke, die uns helfen, die für uns stimmigen Antworten für unsere Familien- und Lernkulturen und vor allem für jedes Kind und jede/n Jugendliche/n zu finden.

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Noch ein Plädoyer für Vorlesekulturen

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«Im Alpha»-Sein