Künstliche Intelligenz im Klassenzimmer - und jetzt?!?

Eine (erste) bindungsbasierte Stellungnahme zur Frage, wie wir mit künstlicher Intelligenz in unseren Schulen umgehen sollten - Oder: Warum jetzt (fast) nur noch das Rohmaterial zählt.

In den letzten Wochen hat die Frage, wie «die Schule» und damit wir als Gesellschaft mit künstlicher Intelligenz (KI) und vor allem mit dem Chatbot ChatGPT umgehen soll, so richtig an Fahrt aufgenommen. Und zumindest mir hat ChatGPT von OpenAI definitiv vor Augen geführt, dass KI aus der Zukunft nicht mehr wegzudenken ist – auch nicht aus unseren Schulzimmern. «Es isch abgfahre, was de alles chan» - und ja, auch das hätte ChatGPT verstanden: Schweizerdeutsch ist kein Problem für ihn (ausser ein paar Begriffe aus meinem Appenzeller-Wortschatz ;o)

KI, die ganze Arbeiten schreibt, KI die Rückmeldungen auf Aufsätze gibt, KI die mir erklärt, wie das mit den Zeitzonen funktioniert …

… KI, die unseren Kindern und Jugendlichen in der Essenz das Denken abnimmt?!?

Eine Welt, in der künstliche Intelligenz das Denken für uns erledigt, mag viele Vorteile haben – für Menschen, die (noch) selber denken können. Mir aber die Auswirkungen auf alle anderen vorzustellen, die diese urmenschliche Fähigkeit gar nie entwickeln konnten, erzeugt so viel Alarm, dass alles in mir davor zurückscheut mich in eine solche Welt einzufühlen…

Aber was bedeutet das jetzt – für uns als Gesellschaft, für unsere Schulen, für uns als Eltern? Was brauchen unsere Kinder und Jugendlichen, um fürs Leben zu lernen und bereit zu sein für die Welt von Morgen? Und wie können wir sie darin unterstützen?

Diese Fragen sind so gross, dass damit bestimmt mehrere Task Forces beschäftigt werden könnten – und weil sie nicht nur wichtig, sondern auch dringend sind, ich versuche ich mich mal in einer bindungsbasierten Stellungnahme, welche sicher nicht abschliessend, aber für den Moment wohl «good enough» ist:

  • Wenn KI unseren Kindern und Jugendlichen das Denken abnimmt, welches ja durchaus mühsam, anstrengend und fordernd sein kann, dann müssen wir Erwachsenen definitiv zurück auf Feld eins und die Freude am Denken in ihnen erhalten oder wieder erwecken: Die Freude an eigenen Überlegungen, eigenen Ideen, eigenen Lösungen, eigenen Meinungen und ja, auch eigenen Fehlschlüssen und Irrungen, die heute allesamt kaum noch gefragt sind angesichts unseres Fokus auf standardisierten Lernleistung - und pardon, das ist das, was wir in unseren Schulen immer noch geschieht, trotz vielen Individualisierungsbestrebungen.

  • Wenn KI alle Antworten kennt, bleibt uns Erwachsenen wohl nichts anderes, als unsere Kinder und Jugendlichen darin zu begleiten, Fragen zu entwickeln resp. ihre Neugierde zu erhalten oder zu entfachen. Denn nur wo Fragen sind, können Antworten auf fruchtbaren Boden fallen und verknüpft werden resp. Wurzeln schlagen – ja, nur mit Fragen tun sich neue Felder zum Bestellen auf!

  • Wenn wir KI Systeme und Tools haben, die unseren Kindern das Schreiben abnehmen, sollten wir unseren Fokus (endlich) darauf legen, sie die Lust und die Freude am Schreiben entdecken und entfalten zu lassen! Und das hat ebenso wie das Denken ganz viel mit Persönlichkeit zu tun, denn die Essenz und der Sinn von Denken und Schreiben ist ja, etwas Inneres - seien es Ideen, Gedanken oder Gefühle – so klar zu fassen, dass wir es in Sprache verpacken und anderen mitteilen können.

Das Ganze in Kurzform:

Wir sollten uns darauf konzentrieren, das Rohmaterial in unseren Kindern zu nähren, das sie brauchen, um Fragen zu stellen und etwas Inneres zum Ausdruck und in die Welt zu bringen:

  • ein umfassendes und feines Gefühl für und eine Beziehung zu sich selbst

  • Entdeckergeist im Sinne von Neugierde, Tatendrang oder eben «Emergenz»

Nur wenn unsere Kinder und Jugendlichen «beseelt» und «inspiriert» sind, nur wenn in ihnen eine Persönlichkeit heranwachsen und sich mehr und mehr zum Ausdruck bringen kann und will, nur dann werden sie auch im Zeitalter von KI noch schreiben lernen und selber denken wollen - und nur dann werden sie zu «Meistern» der neuen Tools heranwachsen und nicht zu deren Sklaven.

Was heisst das für uns Erwachsene, die wir sie darin begleiten und - v.a. im Schulsystem - den Grossteil ihrer Zeit und ihres Raumes gestalten?

Die Antwort ist eigentlich ganz einfach: Wir müssen in die Beziehung investieren, denn nur so…

… finden unsere Kinder und Jugendlichen den sicheren Raum, den sie brauchen, um sich selbst zu entdecken und zu entfalten, und den sicheren Hafen, der ihnen ermöglicht aufzubrechen und neue Felder zu erkunden.

… können wir die Herzen unserer Kinder und Jugendlichen weich halten, und diese brauchen sie so dringend, um eine Beziehung zu sich selbst und zu anderen aufzubauen und um resilient und auch wirklich sozial zu werden.

… können wir den Weg und die Bühne bereiten, um herauszulocken, was in unseren Kindern und Jugendlichen angelegt ist.

… können wir ihr grundlegendstes Bedürfnis – dasjenige nach Nähe und Kontakt – stillen, so dass sie keine Bindungsarbeit leisten müssen, sondern frei sein können um zu entdecken, zu erforschen und zu lernen.

Ich hoffe mit ganzem Herzen, dass auch diese bindungsbasierte und entwicklungsfreundliche Perspektive ihren Weg in den Diskurs rund um KI in unseren Klassenzimmern resp. im Leben von unseren Kindern und Jugendlichen findet.

 

PS. Für alle, die noch nie von ChatGPT gehört haben, hier ein paar aktuelle Links, die bestimmt in einer Woche schon wieder veraltet sein werden…

PPS. Und für alle, die tiefer eintauchen möchten in die Thematik «Digitalisierung»: In unserem Mini-Kurs «Vom Kind zum Screenager?» gehen wir diesen Fragen nach.

Bild: Gerd Altmann (Pixabay), bearbeitet

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