«Muesch kei Angscht ha!»
Worin meine Aversion gegen diesen Satz gründet - Oder: Warum es Sinn macht, dass Kinder Angst vor fremden Hunden haben und wie wir (nicht) damit umgehen sollten
Da war er wieder, dieser eine Satz, der bei mir immer ein Kopfschütteln auslöst, mindestens ein inneres. Heute, während ich meine Wäsche abhängte, klang er hinter der Gartenhecke hervor, zusammen mit dem leicht quietschenden Geknarre eines Kinderwagens und dem hörbaren Hecheln eines Hundes (was mich auf eine stattliche Grösse schliessen liess): «Muesch ke Angscht ha!» Und unmittelbar darauf: «Er isch e Liebe – er het gärn Ching u wott nume spile».
Ich kann diesen Satz nicht ausstehen, in keinem Kontext mit Kindern drin, denn er vermittelt dem Kind nur, dass das, was es empfindet, falsch ist.
Und weil dieser Satz so vielen von uns in so vielen verschiedenen Situationen immer mal wieder über die Lippen kommt, möchte ich hier gerne ausdeutschen, woher meine Aversion rührt:
Ein Plädoyer für ein gut kalibriertes Alarmsystem
Unsere Kinder haben ein Alarmsystem, das ganz selbständig Alarm schlägt, wenn sie über die Sinne irgendetwas Bedrohliches wahnehmen.
Dieses Alarmsystem ist goldwert, es ist quasi die Lebensversicherung unserer Kinder, und es braucht einige Jahre Zeit, um sich richtig zu kalibrieren.
Unsere Kinder müssen hierfür ganz viele unterschiedliche Erfahrungen mit kleinen und grossen Bedrohungen machen und auf diese Weise lernen, was wirklich bedrohlich ist und was nicht. Es sollte also ein grosses Anliegen von uns Erwachsenen sein, dass die Kinder in unserer Obhut genügend Frei- und Spielraum haben, um ihr Alarmsystem zu kalibrieren, denn schneller als frau und man denkt, ziehen sie alleine los und sind ausserhalb der Reichweite unserer guten Ratschläge oder Warnrufe.
Der Satz «Muesch kei Angscht ha» hilft definitiv nicht beim Kalibrieren! Natürlich mag er aus der Sicht und gemäss der Logik von uns Erwachsenen richtig sein (wenn der Hund wirklich lammfromm oder der Sprung auf die Wiese aus 20cm Höhe wirklich absolut ungefährlich ist), aber darum geht es nicht!
Um beim Beispiel von heute Nachmittag mit dem freilaufenden Hund zu bleiben: Es wäre absolut besorgniserregend, wenn ein Kind im Spielgruppenalter nicht alarmiert wäre, wenn ein unbekannter und freilaufender Berner Sennenhund auf es zugetrabt kommt, die Schnauze auf Gesicht-Höhe!
Was soll in einer solchen Situation der Ausdruck «Muesch kei Angscht ha»? - Er signalisiert dem Kind, dass es falsch empfindet, dass das, was da in seinem Inneren abgeht, falsch ist. Das ist ganz grundsätzlich ein Problem für die Entwicklung des Kindes – und auch ganz spezifisch im Hinblick auf Hunde!
Denn es ist keine gute Strategie für kleine Kinder, auf fremde Hunde völlig angstfrei zuzugehen – nicht alle sind lammfromm, und wenn sich ein Hund bedrängt fühlt von einem aus seiner Sicht übergriffigen Kind, das seine subtilen Signale nicht liest, verteidigt er sich.
Vorschläge für entwicklungsfördernde Hundebegegnungen
Wie könnte man also eine Situation wie die von heute Nachmittag anders angehen – als Hundehalter und als Elternteil?
Die offensichtlichste Lösung: Der Hund gehört an die Leine oder ins kontrollierte «Fuss», wenn er an fremden Kindern vorbeiläuft. Falls es dennoch zu einem Kontakt zwischen Hund und Kind kommen soll, machen das die Grossen untereinander aus: «Darf mein Sohn ihren Hund streicheln?» Oder: «Will der Kleine ihn mal streicheln – er ist sich Kinder gewohnt». Und dann bitte dem Kind erklären, wie man das macht, also dass Hunde gerne erstmal schnuppern, dass man Hunde zu Beginn lieber nicht auf dem Kopf, sondern am Hals kraulen soll (die Geste von oben herab kann bedrohlich wirken), dass langsame Bewegungen gefragt sind und dass die Hände nicht in die Höhe gerissen werden sollen (das könnte der Hund als Spielaufforderung verstehen).
Falls das Kind dann Angst zeigt, könnte das «Muesch kei Angscht ha» von der Besitzerin so umformuliert werden - und…
… vielleicht ist das auch das, was die Hundebesitzerin von heute Nachmittag eigentlich sagen wollte: «Hesch e chli Angscht, gell? Das chani verstoh - du kennsch ihn jo au nöd. I kenn ihn scho johrelang, sit er sooo chli gsi isch - und i weiss, dass er ganz en Verschmuuste isch.»
Und wenn das Kind dann immer noch ängstlich ist, wäre Folgendes passend: «Weisch, mir gsehnd üs sicher wieder emol - und denn chasch du’s jo nomol probiere, denn kennsch du ihn jo au scho chli!»
Wie aber hätte die Mutter in der Situation von heute Nachmittag anders reagieren können, als ein freilaufender Hüne auf ihren Sohn zutrabte? – Sie hätte die Besitzerin bitten können, ihren Hund zurückzurufen, sie hätte sich vor ihren Sohn stellen können und vor allem hätte sie das «Muesch kei Angscht ha» parieren können, vielleicht etwa so: «Mein Junge hat aber Angst, wenn ein unbekannter Hund einfach so auf ihn zukommt – und ich bin froh drum!» Und zu ihrem Sohn hätte sie sagen können: «Ich sehe, dass dich das grad alarmiert / dass du gerade Angst hast – und ich kann das verstehen. Der Kerl ist ja echt riesig! - Wollen wir uns den Hund vielleicht doch mal gemeinsam anschauen? Vielleicht ist er ja wirklich ganz lieb und lässt sich kraulen?»
Das Gespräch heute Nachmittag verlief leider anders. Hundebesitzerin: «Warum hat ihr Sohn denn Angst? Er ist wirklich ganz ein lieber Hund!» Mutter: «Ja, ich weiss auch nicht so recht…» Hundebesitzerin: «Ist denn mal etwas vorgefallen, ein schlechtes Erlebnis oder so…?»
Tja, spätestens hier zeigte die Situation ganz wunderbar auf, welch verquere Wahrnehmung von Alarm oder Angst wir haben: Nein, es muss nichts Traumatisches vorgefallen sein, damit ein Kind in einer solchen Situation alarmiert ist! Und nein, Alarm ist nichts Schlechtes und nicht Pathologisches, das man erklären oder für das man sich sogar schämen muss! Im Gegenteil: Er ist sehr hilfreich und hat immer eine Berechtigung. - Aber ja, aufgepasst: Es kann sehr wohl mal etwas vorfallen, wenn wir dem Kind seinen Alarm ständig ausreden!
PS. Mehr zum Thema «Ängste verstehen» gibt es ausserdem in unserer aktuellen Podcast-Serie und in unseren Angeboten zum Thema: www.bindungsbasiert.ch/aengste
PPS. Einfach um es explizit zu machen: Ich liebe Hunde - ich habe selbst einen! Und ich habe irgendwann in den vergangenen 44 Jahren gelernt, Hunde (und vor allem ihre Besitzer!!!) zu lesen (= mein Alarmsystem hatte also Zeit, um sich gut zu kalibrieren ;o)