“Nie mehr, ich will nie mehr…!!!”
Was dahinter steckt, wenn Kinder Liebgewonnenes weit von sich wegschmeissen - Spielzeug ebenso wie Freunde, Haustiere oder Hobbies - Oder: Auf Du und Du mit der defensiven Bindungsabwehr
Heute Morgen habe ich meinen Kindern beim Frühstück folgende Geschichte aus meinem Leben erzählt:
Ich war etwa 14 Jahre alt und im Zug unterwegs. Mit mir im Abteil sass eine Frau mit einem zuckersüssen Junghund, im Abteil vis-à-vis sassen schweigend zwei ältere Menschen. Sie interessierten sich offensichtlich für den kleinen Vierbeiner, doch ich konnte den Grund für ihr Interesse nicht in ihren Gesichtern lesen: Manchmal erkannte ich Freude ob dem Gewedel des aufgeregten Fellknäuels, manchmal überwog Verärgerung und Ablehnung.
Als Frau und Hund dann ausstiegen, wartete ich gespannt auf das Gespräch der beiden. Ich war mir fast sicher, dass sich nun ein Schwall an Entrüstung aus ihnen ergiessen würde, so im Sinne von „Wie kann man nur mit einem so kleinen/so aufgeregten/so lauten Hund im Zug reisen!“
Doch das Gespräch ging in eine ganz andere Richtung. Und es prägte mich.
Es verlief in etwa so:
„So was will ich nie mehr erleben. Nein, das tut viel zu fest weh.“ - „Ja, gell, das ist ja schon süss, wenn sie so klein sind. Aber wenn man sie dann wieder loslassen muss, das schmerzt. Das will ich nie mehr erleben.“ – „Meine Hündin hat mich 13 Jahre lang begleitet, überall hin, immer war sie bei mir. Vor einem Jahr ist sie gestorben. Das war wahnsinnig schwierig, das will ich nie mehr erleben“. – „Ich auch nicht, egal wie süss diese Welpen sind. Da gehe ich nie mehr hindurch!“
Ich war baff damals. Statt der erwarteten Schimpftirade sprachen diese alten Leute über ihre Verletzlichkeit! Das fand ich genial - und doch fehlte da etwas, denn die Schlussfolgerung erschien mir komplett falsch. Und ich nahm mir vor, dass mir das NIE passieren würde:
Dass ich mir vor lauter Schmerz ob des sicheren Abschieds nie das Glück nehmen lassen würde, mit einem Hund durchs Leben zu gehen.
Seither musste ich drei Hunde gehen lassen und jedes Mal war es wahnsinnig schwierig und schmerzhaft für mich.
Was mein jugendliches Ich damals noch nicht kannte, waren die Begriffe Resilienz und defensive Bindungsabwehr. Sie stehen für mich für den Weg durch diese schmerzhaften Erfahrungen hindurch.
Und genau darum ging es bei uns heute am Frühstückstisch:
Dass Freud und Leid so nah beisammen sind, ja, noch mehr: Dass sie zusammengehören!
Dass der Trennungsschmerz beim Loslassen eines Hundes einfach all die Liebe, Freude und Erfüllung widerspiegelt, die er in ein Leben gebracht hat.
Dass also jede Medaille zwei Seiten hat. Und dass das genau richtig ist so…
… wenn man, frau oder kind denn beide Seiten fühlen kann.
Wer das nicht kann, wer vor Verletzlichkeit flieht, weil sein Herz nicht lernen durfte, ob den kleinen Schrammen des Lebens zu trauern und zu weinen, der droht in einer Verteidigungshaltung stecken zu bleiben.
Denn unser inneres System verteidigt uns gegen Verletzungen, die unerträglich erscheinen! Es schützt uns mit einem Panzer, der den Schmerz aussen vorlässt
Und wenn’s richtig heftig ist, setzt ein Mechanismus ein, der sich defensive Bindungsabwehr nennt, und der sicherstellt, dass wir so was nie (nie!) wieder erleben müssen. Er kappt kurzerhand die Verbindung zu dem, was so schmerzt. Das fühlt sich so an, als ob in uns ein Hebel umgelegt wird und wir uns abspalten von allem, was uns am Herzen liegt. Und auch von uns selbst. Irgendwie wird dann alles starr in uns und kalt. Und wir pfeffern dann das, was uns eben noch so am Herzen lag und jetzt so schmerzt, meilenweit weg. Auf dass es nie mehr wieder kehrt, uns nie mehr schmerzen kann- niemals!
Unser Inneres formuliert dann Verteidigungssätze, die allesamt mit „Ich will nie mehr…“ resp. mit „Ich werde nie mehr…“ beginnen. Und sicherlich kennst du solche Sätze auch von deinen Kindern…
„Ich will nie mehr einen Kappla-Turm bauen…!!!“ - wenn das aufwändige Bauwerk zum zweiten Mal kurz vor der Vollendung eingestürzt ist..
„Ich will nie mehr in den Turnverein…!!!“ - wenn…
„Ich will nie mehr ein Haustier haben…!!!“ - wenn…
„Ich will nie mehr mit meinem Bruder spielen…!!!“ - wenn…
All das ist kein Problem, wenn wir nicht in dieser Verteidigungshaltung stecken bleiben!
Und hierbei brauchen Kinder unsere Unterstützung:
Zum einen braucht es Übung, um diesen Schutzimpuls der defensiven Bindungsabwehr in uns kennen und schätzen zu lernen – und um ihn als das zu sehen, was er ist: Eine impulsive und manchmal sehr heftige Verteidigungsreaktion, die es gut meint mit uns. Und die gleichzeitig grossen Schaden anrichten kann, wenn wir darin stecken bleiben und uns ob all dem Alarm in unser Schneckenhaus zurückziehen, die Schutztür schliessen und uns nicht mehr (nie mehr!) hinauswagen.
Bei mir dauerte es Jahrzehnte, bis ich diese innere Verteidigungsgarnison beim ersten Rüstungsgeklapper als solche erkennen und sie begrüssen und willkommen heissen konnte. Denn wer mit der defensiven Bindungsabwehr nicht “auf Du” ist, ist schnell befremdet ob der Heftigkeit der eigenen Reaktion und ob all dem, was sie einem formulieren liess - und dreht sich erschrocken weg oder wischt sie unter den Teppich.
Und zum anderen taucht die defensive Bindungsabwehr nur dann in uns auf, wenn sie eine unerträgliche Verletzlichkeit ortet, vor der sie uns schützen muss. Und hier liegt ein weiterer Schlüssel, um mit ihr umgehen zu lernen: Wenn wir unseren Kindern ermöglichen, all die Verletzungen in ihren Leben zu fühlen – allen voran die kleinen Alltäglichen - erscheinen kommende Verletzungen nicht mehr so schnell als unerträglich. Und dann ist auch nicht mehr eine so heftige Verteidigungsreaktion nötig.
Und hier kommt der zweite Begriff ins Spiel, der meinem jugendlichen Ich damals nicht nur als Begriff, sondern auch als Fähigkeit fehlte: Resilienz.
Resilienz kommt vom Lateinischen resilire - zurückspringen. Und heute tauchen vor meinem inneren Auge gleich die Bäume und Sträucher auf unserem Land auf: Diese Schwingen bei Windböen mit, sie lassen sich biegen, sogar die grossen dicken Tannen im Wald, aber nicht brechen. Und genau das ist Resilienz: Ein Zurückschwingen zu normalem oder optimalem Funktionieren nach stressvollen Phasen.
Der Tod eines Haustieres ist so eine stressvolle Phase. Und für kleine Kinder auch das eingestürzte Kappla-Gebäude, der Konflikt im Turnverein oder wie bei uns heute Morgen, das Ende eines liebgewonnenen Vorlese-Buches. All diese Stressoren sind nicht das Problem, wir brauchen sie unseren Kindern nicht aus dem Weg zu räumen oder sie davor zu schützen: Wir sollten ihnen den Weg mitten durch den Schmerz hindurch zeigen, liebevoll, achtsam und mit Boden unter unseren Füssen.
Und wir sollten sie mit ihrer körpereigenen Schutzfunktion namens defensive Bindungsabwehr bekannt machen - nicht, in dem wir den Begriff einführen oder die Theorie dazu erläutern, sondern einfach in dem wir beschreiben, was da gerade in ihnen los ist. So dass sie nicht in ihrer Abwehrunghaltung resp. in ihrer Panzerung stecken bleiben, sondern wieder gedeihen und blühen dürfen.
Und natürlich ist das nicht mit einer einzigen Frühstücks-Erzählung “erledigt”, sondern immer und immer wieder Thema bei uns - in jedem Alter, bei jedem von uns, mit unterschiedlichen Themen und Färbungen.
Die beiden älteren Menschen im Zug waren wohl in dieser defensiven Bindungsabwehr stecken geblieben und hatten den Panzer nicht mehr ablegen und deshalb nie mehr die Freuden eines Hundebesitzers erleben können. Das hat mich damals sehr berührt und geprägt.
Heute bin ich mit meiner defensiven Bindungsabwehr “auf Du und Du”. Und ich kenne den Weg mitten durch meine Trauer und den Schmerz hindurch und bin bestrebt, meinen Kinder diesen Weg aufzuzeigen und ihnen möglichst viel Trittsicherheit zu vermitteln.
Wenn du mehr über diesen Weg erfahren möchtest, sei gerne dabei bei meinem Resilienz-Kurs am 5. April in Oey oder beim Resilienz-Online-Kurs vom 16. & 17. Mai.
PS: Und natürlich ist all das auch in meinem nächsten Jahreskurs “Kinder mit ganzem Herzen begleiten” enthalten.
Bild: Pixabay, A.D.