Mein Kind: Chef & Klammeräffchen in einem
Bestimmend und fordernd auf der einen, klammernd und ängstlich auf der anderen Seite: Warum Trennungsprobleme und Boss-Verhalten oft Hand in Hand gehen.
Es scheint eines der grossen Rätsel der Elternschaft zu sein. Und mit Sicherheit ist es eine der grössten Herausforderungen:
Wenn Kinder …
… sehr bestimmend sind oder immer Recht oder das letzte Wort haben müssen;
… immun sind für alle noch so guten Ratschläge und auf gar keinen Fall um Hilfe bitten würden;
… sich nicht anleiten oder führen lassen - egal wie klein sie sind und egal wie absurd das Setting ist;
… nicht bitten, sondern fordern;
… nicht zu sättigen sind, egal wie viel Eltern geben.
„Er hat einfach einen unglaublich starken Willen und war schon als Kleinkind eine echte Persönlichkeit.“
„Sie ist einfach so. So war sie schon immer – schon von klein auf hat sie uns nie wirklich gebraucht und liess sich nichts sagen. Unsere Beziehung war deshalb schon immer etwas speziell – und jetzt mit 12 verbringt sie halt die meiste Zeit mit Freunden oder am Handy.“
„Wir können ihn einfach nicht zur Ruhe bringen. Er will alles wissen und fühlt sich für alles verantwortlich. Vermutlich steckt ADHS oder Hochsensibilität oder so was dahinter. Manche Kinder sind halt sehr „villbrüüchig“ (bedürfnisintensiv).“
So oder ähnlich klingen die Erklärungen von vielen Eltern. Und das klingt erstmal nach viel Verständnis und viel Raum für Individualität, beim genaueren Hinhören schwingt aber auch viel Ohnmacht und Frustration mit.
Das war auch bei Miriam* so, die vor zwei Jahren mit diesem Anliegen zu mir kam. Sie und ihr Mann erwarteten damals ihr zweites Kind und waren gleichzeitig mit ihrer Fünfjährigen „echt am Rand”. Sie hatten schon so ziemlich alles probiert, aber ihre Elternschaft hatte sich zu einem waschechten Kampf ausgewachsen.
Dabei hatten sie sich damals so auf ihr erstes Kind gefreut! Sie hatten beide ihr Arbeitspensum reduziert, noch vor der Geburt zig Bücher gelesen, Babymassage- und Babyschwimmen-Kurse belegt undundund. Miriam war bemüht, alles richtig zu machen - und vor allem wollte sie anders als ihre eigenen Eltern auf die Bedürfnisse ihres Kindes eingehen und es ohne Druck und vor allem ohne Strafen erziehen. Miriam erinnerte sich gut an die Konflikte und Machtkämpfe mit ihrer eigenen Mutter und wollte das auf jeden Fall vermeiden. Und nun das:
„Wir landen quasi dauernd im Konflikt, wegen den kleinsten Kleinigkeiten. Ich überleg mir jedes Nein zehnfach und gehe wie auf Eiern, weil überall die nächste Tretmine lauern könnte! Es muss einfach immer nach ihrem Willen gehen.“
“Sie nimmt keine Ratschläge von mir an, egal ob es um die Regenjacke oder um die Bastelarbeit geht. Sie weiss alles besser und wenn ich insistiere, knallt’s. - Wenn sie dann patschnass nach Hause kommt oder die Bastelei bachab geht, lässt sie sich auch nicht von mir trösten. Und was mich am meisten stresst: Sie ist auch nicht offen, um daraus zu lernen…”
Die Reaktionen und Ratschläge ihres Umfeldes waren für sie wenig hilfreich und immer etwa gleich ausgefallen:
„Du bist viel zu lieb und verständnisvoll. Du musst dich endlich mal durchsetzen und Regeln aufstellen!“
„Du musst diesem Kind Grenzen setzen! Es muss lernen, dass ein Nein ein Nein ist!”
Das hatte Miriam versucht. Geholfen hat es nichts, zumal sie – gottseidank – nicht bereit war, Gewalt gegen ihr Kind anzuwenden.
„Wie soll ich mich denn durchsetzen? Ich hab gefühlt gar keinen Hebel in der Hand, wenn ich ihr nicht mit Konsequenzen oder Strafen drohe… und das wollte ich doch nie!“
Und dann war da ja auch noch ein anderes Problem, das irgendwie so gar nicht zum restlichen Verhalten ihrer Tochter passen wollte (aber halt doch oft zusammen vorkommt): eine riesige Angst vor Trennung!
Ihre Tochter konnte kaum ohne sie sein. Seit einigen Monaten stand der Kindergarten an und alleine dort zu bleiben ging nicht, es war jedes Mal ein Drama. Ausserdem liess sich ihre Tochter nur von Mama oder Papa betreuen, auch mit den Grosseltern wollte es nicht mehr klappen. Und auch das Einschlafen wurde zunehmend zum Kraftakt, da ihre Tochter auch in ihrem Bett nicht allein sein konnte und absurde Ängste entwickelt hatte: Die Lichtschimmer, die vorbeifahrende Autoscheinwerfer durchs Zimmer tanzen lassen, wurden dann zu bizarren Gestalten, und auch von kleinen Männchen, die unterm Bett wohnen und nachts zum Vorschein kommen, hatte sie bereits erzählt…
Miriam fühlte sich wie die Zitrone in der Presse: Was auch immer sie ihrer Tochter gab, es reichte nicht: Wenn sie sie unterstützen oder für sie da sein wollte, prallte sie auf eine Wand aus Härte und Eis – und gleichzeitig war eben dieses Kind ein unmögliches Klammeräffchen und so (!) abhängig von ihr und ihrem Mann.
Miriam verstand nicht, wo sie falsch abgebogen waren.
“Haben wir als Eltern versagt? Gibt es da noch was zu kitten oder ist meine Tochter schlicht und einfach ein spezielles, um nicht zu sagen „unmögliches“ Kind? Sollen wir sie abklären lassen? Und vor allem: Was können wir tun, damit sich die Geschichte mit unserem Sohn nicht wiederholt?”
Mit diesen Fragen war Miriam vor zwei Jahren zu mir in den Intensiv-Kurs und dann auch ins Coaching gekommen.
Die Antwort auf ihre Fragen:
Es lag nicht an dem, was sie machten – ihre Tochter brauchte weder mehr Grenzen noch klarere Ansagen oder Regeln.
Und es lag auch nicht an ihrer Tochter, weder an einem besonders starken Willen oder einer speziell bedürfnisintensiven Persönlichkeit, noch an ADHS oder Hochsensibilität.
Es war schlicht und einfach ein Problem der Beziehung.
Was ihre Tochter brauchte – und zwar ganz dringend – waren Eltern, die „im Alpha“ sind: Eltern, an denen sie sich orientieren und anlehnen konnte, die Wärme ausstrahlen und Klarheit, Schutz & Stärke vermitteln.
Dass das eine Frage der Haltung ist und sich nur bedingt in dem widerspiegelt, was Eltern sagen oder tun, hatten Miriam und ihr Mann gerade schmerzhaft erfahren.
Wenn sich Eltern an den Wünschen ihrer Kinder ausrichten und ihm die Führung überlassen, wenn Bedürfnisorientierung heisst, dass jeder Wunsch des Kindes heilig ist und nicht übergangen werden darf, wenn Eltern ihre Kindern mittels Fragen begleiten (Welches Joghurt hättest du gerne? Was würdest du gerne tun/anziehen/essen/spielen…?) – dann schlussfolgert das kindliche System folgerichtig:
„Meine Eltern haben keinen Plan. Sie sind überfordert und brauchen Anweisung.“
Und auch: „Meine Eltern können die Verantwortung für die Familie nicht tragen. Jemand muss sie aber tragen, also übernehme ich das Steuer.“
Das mag auf einer energetischen Ebene durchaus richtig sein. In unserer Alltagswelt ist dieser Rollentausch aber völlig absurd und schlicht unmöglich. Kein Wunder sind diese “Alpha-Kinder” heillos überfordert in ihrer Führungsrolle. Mehr noch: Sie sind in grosser Not – und diese Not äussert sich nicht nur in Konflikten und nie versiegenden Frustrationsladungen, sondern auch in Unruhe, Ängsten und Trennungsproblemen.
Den Schlüssel hin zu mehr Leichtigkeit & Erfüllung und zu weniger Diskussionen, Konflikten & Trennungsproblemen fanden Miriam und ihr Mann also nicht auf der Handlungsebene. Und es gab auch nichts an ihrer Tochter „ume’z’schrüüble“ (rumzudoktorn): Es war schlicht und einfach eine Frage der Beziehung und ihrer inneren Haltung.
Diese Erkenntnis war erstmal schmerzhaft - und zwar auf ganz vielen Ebenen: Da war die Not ihrer Tochter, die sie nun so klar vor sich sahen. Da waren aber auch innere Widerstände, Glaubenssätze und Hemmungen, die sie bis anhin davon abgehalten hatten, die Alpha-Rolle zu übernehmen. Und da waren auch die unangenehmen Gefühle der Verantwortung und Schuld, die mit der Führungs-Rolle Hand in Hand gehen. Und last but not least war da auch die Tatsache, dass sie in ihrem Umfeld keine guten Vorbilder für eine solche Alpha-Rolle fanden und nun wirklich aus sich selbst schöpfen mussten.
Diese Erkenntnis war aber auch sehr befreiend und bestärkend! Erst mal: Es war nichts falsch mit ihrem Kind - und das war echt eine Erleichterung! Und ich glaube, Miriam fand echten Gefallen darin, die Lösung rein in ihren Händen zu sehen. Keine Therapeuten, keine Spezialisten - sie selbst hatten den Hebel in der Hand. Sie fanden auf jeden Fall auf Anhieb zig Situationen und Punkte, an denen sie ansetzen konnten.
Natürlich war das Ganze kein Sprint, sondern eher ein Halbmarathon, doch Miriam und ihr Mann sahen schnell erste Anzeichen der Entspannung. Und sie schafften es, im Beziehungstanz mit ihrem “kratzbürstigen Klammeräffchen” noch vor der Geburt des kleinen Bruders wieder den Lead zu übernehmen.
Ende gut, alles gut? - Ein bisschen schon, aber ein bisschen eben auch nicht. Beziehung ist ja nichts Statisches und es gibt auf dem Weg mit unseren Kindern immer wieder Momente und Phasen, in denen unser Alpha besonders gefordert ist und in denen Kinder, gerade solche mit einer Alpha-Kind-Vergangenheit, leicht in alte Muster kippen.
Falls du gerne besser verstehen möchtest, warum Kinder zu Alpha-Kindern werden und wie wir sie wieder zurück tanzen können: Sei gerne dabei bei meinem nächsten Mini-Kurs “Alpha-Kinder verstehen” oder bei meinem Jahreskurs “Kinder mit ganzem Herzen begleiten”.
* Den Namen habe ich logischerweise geändert und die Dialoge sinngemäss wieder gegeben
Bild: Superkiki Pixabay plus AI