Was hinter Stress steckt - und was bei Stress hilft

Praxis-Wissen Emotionen #2: «Stress = mehr Emotionen + weniger Gefühle» - und was das für uns und für unseren Alltag mit Kindern und Jugendlichen heisst

 

Was machst du bei Stress? Wie fühlt er sich für dich an? Wo spürst du ihn im Körper?

Bei mir zeigt sich Stress in unterschiedlichen Formen: In einem Kribbeln in allen Zellen (leichter Stress), einem flauen Gefühl im Magen, Schwitzen unter den Armen oder einer angeregten Verdauung bis hin zu einem erhöhten Pulsschlag und unkontrollierbaren Gedankenströmen (starker Stress). Manchmal nehme ich ihn sehr rasch wahr und manchmal braucht es etwas, bis ich realisiere, was da grad los ist. Ist ja auch klar, schliesslich fehlt uns bei Stress meist die Zeit und der Raum, um zu realisieren und zu fühlen, was uns da gerade wirklich umtreibt. Wir wissen ja selbst, dass es nur vordergründig die nie endende To-Do-Liste ist (die wir ja meist sowieso in Eigenregie geschrieben haben ;o)…

Nicht nur wir Grossen kennen Stress, auch unsere Kinder kennen ihn. Laut der Projuventute Stress-Studie von 2021 leidet ein Drittel der Kinder & Jugendlichen in der Schweiz unter hohem Stress, wobei schulische Pflichten und die Schulkultur einen deutlichen Einfluss haben.

So wichtig es ist, die äusseren Ursachen von Stress zu verstehen und wenn möglich zu minimieren (bei unseren Kindern und bei uns), so hilfreich ist es jedoch auch zu verstehen, was bei Stress in uns abgeht. Neuropsychologisch und chemisch ist das gut erforscht und kann an verschiedenen Orten (bspw. beim Unispital ZH, bei PlanetWissen oder bei der Harvard University) nachgelesen werden.

Aus bindungsbasierter Sicht brauchen wir die folgenden Erkenntnisse, um die Stress-Antwort in unserem Körper zu verstehen:

Gefühle sind Emotionen, die wir fühlen können und deren wir uns bewusst sind.

  1. Emotionen und Gefühle sind nicht dasselbe: Während der Begriff «Emotionen» all das umfasst, was uns innerlich und unbewusst aufwühlt, beschreibt der Begriff «Gefühle» Emotionen, die wir benennen und vor allem fühlen können (das Ganze gibt es hier nachzuhören). – Nur zu unseren Gefühlen können wir eine Beziehung aufbauen, unseren Emotionen sind wir schlicht ausgeliefert: Das kann die unerträgliche Vorfreude auf das Osternest-Suchen sein, ein Aggressions-Anfall, die Verunsicherung ob unserer Energie-Versorgung oder - was bei Stress oft der Haupttreiber ist - der innere Alarm, der in so vielen von uns während Corona abging und sich nicht abstellen liess.

  2. Unser Job als Menschen ist zum einen anzuerkennen, dass Emotionen nie grundlos auftauchen, sondern dazu da sind, um uns mit gutem Grund aufzuwühlen und aktiv werden zu lassen: Emotionen haben Arbeit zu erledigen! - Und zum anderen ist es unsere Aufgabe, die Emotionen wahrzunehmen und sie über das Ausdrücken und Benennen ins Fühlen zu bringen.

Was hat das alles mit Stress zu tun?

Nun, aus unserer Sicht kann das Phänomen Stress auf eine einfache Formel reduziert werden: Wenn wir unter Stress stehen, haben wir mehr Emotionen als wir fühlen können. Bildlich gesprochen wird der «Bauch» des Eisberges unter der Wasseroberfläche grösser und grösser und grösser, während der sichtbare Teil des Eisbergs (die Gefühle) kleiner und kleiner wird. Oder in der Kurzfassung:

Die Stress-Antwort des Körpers = mehr Emotionen + weniger Gefühle

Und was bringt uns diese Erkenntnis?

Fangen wir bei uns Erwachsenen an: Wenn ich unter Stress stehe, wenn ich also 20 Dinge gleichzeitig erledigen und dabei auch noch an weitere 20 denken sollte, geht Folgendes in mir ab: In mir regen sich - ganz so wie es von der Natur vorgesehen ist - Emotionen, die mich aufwühlen und mich dazu bringen wollen, aktiv zu werden: Sie wollen mich bspw. warnen oder mir zeigen, dass da etwas nicht so funktioniert, wie es sollte. Wenn ich dann angesichts der oben genannten 40 Dinge nicht auf sie höre, machen sie nicht einfach schlapp und verschwinden. Im Gegenteil: Sie fangen an zu kreisen und beginnen langsam aber sicher im Roten zu drehen. Das registriere ich, denn mein Körper reagiert mit einem Kribbeln in den Zellen, später mit Bauchweh etc.

Um diesen inneren Druck loszuwerden gibt es nur ein sinnvolles Mittel: Die rotierenden Emotionen auszudrücken und ins Fühlen zu bringen!

Wenn wir Stress mit unserem Willen in Griff bringen oder ihn mit Alkohol, Drogen oder dem Schmerzmittel «Ablenkung» unterdrücken oder ausblenden wollen, hilft das aus unserer Sicht längerfristig nichts: Die Emotionen stauen sich weiter in uns (sie konnten ihren Job ja nicht erledigen) und entladen sich dann im besten Fall «deplatziert» - oder aber wir gehen dazu über, alle Emotionen zu dämpfen (also nicht nur diejenigen, die uns unangenehm sind - selektives Ausblenden funktioniert leider nicht) und schlittern irgendwann in Richtung depressive Verstimmung.

Das heisst, dass ich bei Stress etwas Paradoxes tun sollte:

  1. Ich sollte dem Stress in mir Raum geben und die Emotionen, die mich umtreiben ausdrücken (gerne spielerisch – also tanzend, zopfteigknetend, holzhackend, Bälle werfend, mit den Kindern blödelnd etc.) - denn alles, was AUSgedrückt ist, ist per Definition nicht mehr im System drin, sondern eben «draussen» - und das ist schon mal wunderbar. Wer Angst vor verwunderten Blicken der Nachbarn hat, macht einfach die Vorhänge zu ;o)

    Das Schöne dabei ist: Ich muss gar nicht verstehen, was genau mit mir los ist oder warum ich so gestresst bin. Ich kann mich einfach von meinen Emotionen führen lassen bis…

  2. … sie sich mir zeigen und ich sie bewusst wahrnehmen und dann auch benennen kann. Dieser Schritt ins Bewusstsein ist wichtig, denn nur so kann ich mit meinem Innenleben in Beziehung treten und herausfinden, was meine Emotionen mir mitteilen möchten.

  3. Das finde ich allerding nur heraus, wenn ich mir an dieser Stelle den geschützten Raum und die nötige Zeit gebe, um meine Emotionen auch wirklich zu fühlen, sie also innerlich bewusst wahrzunehmen und mich ihnen hinzugeben. Und wenn das klappt, geschieht etwas Grossartiges: Etwas in mir entspannt sich! Denn wenn wir unsere Emotionen fühlen und mit dem Herzen verstehen können, was der ständige Alarm oder die Frustration, die unser Job, eine Beziehung oder die Lage der Welt in uns auslösen, sagen wollen, dann haben die Emotionen ihre Aufgabe erledigt und beruhigen sich.

Das ist nicht immer einfach und viele von uns sind etwas aus der Übung, wenn es ums Fühlen geht (und manche haben auch mit dem Ausdrücken und Benennen von Emotionen ihre Mühe), doch wer sich auf den Weg macht, wird sehen, dass der Stress sich legt. Ausprobieren lohnt sich!

Das heisst in der Kurzfassung:

  • Wenn wir gestresst sind, haben wir mehr Emotionen in unserem System als wir «verarbeiten» können.

  • Der natürlichste Weg, um den Überdruck an Emotionen abzulassen und Stress zu reduzieren, lautet: 1) Die Emotionen (spielerisch) ausdrücken (da lassen wir schon mal Dampf ab), sie 2) benennen und so in unser Bewusstsein holen und uns dann 3) den Raum geben, um sie zu fühlen.


Für alle, die sich wundern, was das mit der nie-enden-wollenden To-Do-Liste zu tun hat, hier ein eine kleine Challenge: Frag dich mal, welches Bedürfnis sich hinter den einzelnen Punkten auf der To-Do-Liste versteckt (Bspw. Dazugehören? Wertschätzung bekommen? Deine Rolle als (perfekte) Mutter, Vater, Hausfrau oder -mann erfüllen? Gleich-Sein wie die anderen? etc.) - Und, geht mit der Vorstellung, dass du den Punkt nicht in nützlicher Zeit abhaken kannst, ein gewisser Alarm einher? Falls ja: Genau da drin steckt dein Stress! Dein System will dich genau davor warnen resp. gilt es, genau diesen Alarm zu fühlen (mehr dazu in dieser Podcast-Folge).


Und was heisst das nun für unsere Kinder & Jugendlichen?

Wenn wir unseren Kindern und Jugendlichen all das vorleben, haben wir schon sehr viel für ihr emotionales Wohlbefinden und ihre emotionale Entwicklung getan, denn wir wissen ja: Erziehung ist zwecklos - sie machen uns sowieso alles nach!

Ganz abgesehen davon, sind kleine Kinder wahre Profis im Reduzieren von Stress (wenn man sie denn lässt): Sie nehmen alles, was zu viel war oder ist, mit ins Spiel. Das ist eines der allerwichtigsten Argumente für echtes Spiel: Unsere Kinder verarbeiten darin nicht nur Erlebtes, sie bringen auch all das, was sich in ihnen staunt zum Ausdruck und somit raus aus dem System und das ist schon mal die halbe Miete. Und wenn sie dann im (Allein-)Spiel mit ihren Kuscheltieren oder Playmobil-Figuren ihre Emotionen auch noch benennen («Weisst du, Teddy, da hatte ich solche Angst…») oder sie gar fühlen können, sind sie auf dem besten Weg hin zu emotionaler Reife und Wohlbefinden.

Bei älteren Kindern oder Teenies ist all das nicht mehr so einfach resp. sind die Freiräume oft vollgestellt mit schulischen oder sozialen Verpflichtungen - und nicht selten wird das, was an freier Zeit noch übrig bleibt, gefüllt mit Social Media, Gamen oder Netflix etc. Dabei sind es gerade die Jugendlichen, die im Aussen bereits viel Stress erleben (Leistungsdruck, Lehrstellen-Suche etc.), die besonders viele sichere Freiräume zum Ausdrücken und Fühlen von Emotionen bräuchten. Damit sie das können, brauchen sie - mehr noch als (kleine) Kinder - Erwachsene, die diese Räume freihalten.

 

PS. Kennst du schon unsere Podcast-Serie «Emotionen verstehen»?

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