So deplatziert!!!

Wie und warum sich Emotionen «de-platzieren» lassen - und was das für unseren Alltag heisst (Praxis-Wissen Emotionen #1)

Unsere Emotionen sind ein Wunderwerk der Natur, eindeutig und klar (wenn wir nur hinhören würden), nie müde und immer zur Stelle – und vor allem: Sie sind immer für und nie gegen uns. Doch leider verweisen wir sie in unserem Alltag oft an den Rand und gestehen ihnen in unserer Gesellschaft – ganz im Gegensatz zu unserer Ratio – keine tragende Rolle zu (ausser natürlich in den Marketing-Abteilungen - da wissen alle, dass es die Emotionen sind, die unser Verhalten steuern).

Das führt leider dazu, dass wir wenig von Emotionen verstehen: Was sie bezwecken und was sie anstreben, liegt für viele von uns im Verborgenen (mehr dazu in unserer aktuellen Podcast-Serie «Emotionen verstehen») und auch viele ganz praktische Aspekte rund um Emotionen scheinen nicht in unserem Allgemein-Wissen verankert zu sein. Und genau hier setzt diese lose Blog-Serie an, beginnend mit dem Phänomen der De-platzierung.

Emotionen lassen sich am besten verstehen als eine Art innere Ladung, die dazu da ist, um Arbeit zu verrichten. Oder in den Worten von Deborah MacNamara: Emotionen sind definiert als etwas, das uns aufwühlt und uns dazu bringt, aktiv zu werden.

Diese Energie muss in Bewegung gebracht werden, damit sie ihren Job machen kann (hier nachhörbar), doch sie kann auch prima gespeichert und für später aufbewahrt werden: In schönen Ferien-Erinnerungen zu schwelgen bspw. kann uns wunderbar einen grauen Regentag versüssen.

AAAber: Dieses De-platzieren geschieht nicht immer bewusst - im Gegenteil! Es gibt unzählige Moment in unserem Leben oder in demjenigen unserer Kinder & Jugendlichen, in denen wir unseren Emotionen – ohne darüber Nachzudenken - keinen grossen Bewegungsraum zugestehen (können), weil…

  • sie schlicht zu gross sind oder zu zahlreich in uns toben, als dass wir ihnen allen den nötigen Raum geben könnten (das Kind, das im Kaufhaus verloren geht; die überraschende Job-Absage; der verpasste Flug… all das sind Situationen, die in uns mehrere grosse Emotionen triggern).

  • wir bewusst entscheiden oder unser System (Hirn) unbewusst für uns entscheidet, dass die Auswirkungen ihres Ausdrucks zu gross wären:

    • Im Büro des Chefs auf den Tisch hauen, um die Frustration ob seiner Unfähigkeit auszudrücken? – Keine gute Idee!

    • Vor der Klasse die Tränen zuzulassen ob der herablassenden Art der Lehrerin? Lieber nicht, sonst drohen weitere Verletzungen!

    • Der eigene Alarm, wenn das Kind blutüberströmt nach einem Sturz vom Spielturm zu uns rennt…? – Der hat grad nicht oberste Priorität.

Unsere Emotionen lassen sich also von uns selbst willentlich («Ich darf jetzt auf keinen Fall weinen, die Lehrerin stellt mich sonst vor allen bloss!») oder von unserem Hirn (also «unwillentlich» oder unbewusst) unterdrücken. Sie werden dann in uns gestaut oder gespeichert und warten darauf, ihre Arbeit bald möglichst tun zu können: Die Frustration will gefühlt, der Alarm ausgedrückt und jede einzelne Tränen geweint werden.


Das ist also eine ganz wunderbare Fähigkeit unseres Systems: Wir Menschen können willentlich oder unwillentlich Emotionen an einem Ort zurückhalten, um sie dann an einem anderen und hoffentlich sichereren Ort auszudrücken.

Emotionen lassen sich also «de-platzieren» und das ist gut zu wissen, zum Beispiel wenn…

… unsere Kinder oder Jugendlichen innerlich geladen nach Hause kommen und uns – getriggert von einer Kleinigkeit - ihre gesamte Emotionsladung vor die Füsse «platzieren», dann können wir getrost annehmen, dass wir nicht die Verursacher der Ladung sind – auch wenn unsere sie wortstark das Gegenteil behaupten. Dieses Wissen hilft mir immer und immer wieder, um in meiner Mitte zu bleiben: Es gibt keinen Grund, mich persönlich angegriffen zu fühlen – das Leben hatte schlicht mehr an Emotionen für meine Kinder bereit, als diese verarbeiten konnten. Nun fühlen sie sich sicher und die Emotionen müssen raus – that’s it. In dem Sinne ist dieses Verhalten eigentlich ein wunderbares Kompliment - wenn auch eines, das nicht immer «wie Honig den Hals hinunter läuft».

… unsere Kinder oder Jugendlichen abends keinen Schlaf finden: Dann stecken oft gestaute Emotionen dahinter, die noch in ihnen kreisen und die erst Ruhe geben, wenn sie ausgedrückt sind. Und da wir es hier mit Trieb-Energien zu tun haben, hilft - zumindest bei Kindern und Jugendlichen - kein achtsames Wegatmen, sondern nur deren lebhafter Ausdruck. Und dieser kann mit spielerischen Methoden durchaus getriggert werden. Das ist auf den ersten Blick ein zusätzlicher Aufwand für uns Eltern, aber einer, der sich spätestens auf den zweiten Blick lohnt, nämlich dann, wenn unsere Kinder kurz darauf seelig schlafen.

… wir uns mit unseren Partner:innen wegen Kleinigkeiten in die Haare geraten, ist - zumindest im Nachhinein - klar, dass wir die Äusserungen des Gegenübers nicht persönlich zu nehmen brauchen, da wir «nur» gegenseitig und ungefragt als Entladungs-Stelle zweckentfremdet wurden.

… wir Eltern nach langen Tagen abends um 8 Uhr quasi aus dem «Normalbetrieb» ausgespuckt und zum ersten Mal seit Stunden mit uns und unserem Innenleben konfrontiert werden… dann ist die Chance riesig, dass da noch einige Emotionen in uns kreisen und nur darauf warten, de-platziert ausgedrückt zu werden. Ja, und dann ist es hilfreich, sich hierfür präventiv Spielräume zu schaffen (mit Musik oder Humor, bspw.) und die Emotionen in diesen sicheren Räumen zu platzieren – statt bei der Partnerin oder dem Partner abzuladen, die/der nach einem langen Arbeitstag gerade im selben Zustand ist.

… wir manchmal lautstarkt über den Autofahrer vor uns fluchen ;o)


Vielleicht erkennst du solche Situationen in deinem Leben wieder? Ich wünsche auf jeden Fall viel Spass beim Beobachten und bewussten De-platzieren von Emotionen – und beim mindestens so spannenden Erkennen der Trigger und Ursachen dieser De-platzierung.

 

PS. Mehr zum Thema «Emotionen verstehen» in unserer gleichnamigen Podcast-Serie:

Foto: Unsplash, @julienlphoto

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