Von wütenden Drachen und traurigen Häschen
Wie sich große Gefühle für kleine Menschen anfühlen
Eine weitere Kategorie meiner liebsten Kinder(bilder-)bücher ist die über den Umgang mit Emotionen. Es gibt auch hier viele Schätze, in denen intuitive Autoren Schönes schreiben. Dem Erkennen von Gefühlen hat sich anscheinend die Schweizer Autorin Kathrin Schärer besonders verschrieben. Ganze 3 ihrer Titel habe ich in diesem Beitrag von ihr aufgenommen.
Im bindungsbasierten Entwicklungsansatz legen wir ja Wert darauf, dass die Emotionen im Fluss sind und nicht stecken bleiben und sich auch verwandeln können. Von sauer zu Trauer, zum Beispiel. Und generell, dass wir unseren Kindern helfen, eine Sprache der Gefühle zu entwickeln. Das können wir schon von Anfang an tun, indem wir unseren Kindern Worte geben, wie sie sich wohl gerade fühlen. Wenn meine kleine Tochter ihre Entlastungsweinphasen hat, habe ich schon oft erlebt, wie sich etwas in ihr beruhigt zu haben schien, wenn ich von einer Situation sprach, in der es für sie wahrscheinlich schwierig war. Das auszudrücken, was in uns ist, macht uns als Menschen aus! Und wir sollten da einen sehr großen Raum aufspannen, um alles, was in unseren Kindern lebendig ist, willkommen zu heißen - als einen Ausdruck ihres Menschseins! Die beste Prophylaxe vor Depressionen und anderen komplizierten Dingen. In folgenden Büchern finden wir dafür schöne Anregungen.
Ein weiches Herz
Ein wunderschön illustiertes Buch mit der Botschaft: „Höre auf dein Herz!“ ist In deinem Herzen wohnt das Glück von Reinhard Friedl und Maria Over. Eine besondere Geschichte von einem Herzchirurgen, der ermutigt, auf das Herz zu hören und es offen zu halten und nicht zu verschließen. Der einzige Wermutstropfen ist, dass beim Thema traurig sein, aus dem Bild hervorgeht, dass man sich dann lieber einem Freund anvertraut und nicht seinen Eltern. Da die Geschichte jedoch ansonsten sehr berührend und besonders ist, kann das im Gespräch mit dem Kind ja verändert werden. Immerhin gibt es vorher ein sehr schönes Bild vom Kuscheln mit der Mama.
Einen Gefühlswortschatz entwickeln
In meinem kleinen Herzen von Jo Witek ist ein Gefühlslexikon für kleine Kinder gibt es für viele verschiedene Gefühle schöne Bilder und Worte, versehen mit einer Tiefenstruktur, die gut zum Erleben passt. Von Trauer über Freude und Schüchternheit ist alles dabei!
Ein weiteres ist das wunderschön illustriert Buch Da sein. Was fühlst du? von Kathrin Schärer, in welchem sie viele Gefühle ohne weitere Worte ausdrucksstark in die Tiergesichter malt.
Außerdem das bekanntere Heute bin ich von Mies van Hout. Dort werden für kleine Kinder Gefühle in Form von intuitiv gezeichneten Fischen lebendig.
Umgang mit Wut
In La cholère du dragon/Angry Dragon [dt: Kleiner Drache, große Wut, vergriffen, zu hohen Summen antiquarisch erhältlich] von Thierry Robberecht sehen wir wunderschön erzählt und gezeichnet den Weg, den ein kleiner Junge mit seiner Wut, die erst klein ist und dann riesig wird, geht. Es kommt jede Phase drin vor, wie es sich in ihm anfühlt – und vor allem der Wendepunkt ist der Schönste – wie nach der Wut eine Leere kommt, in der er sich einsam fühlt und anfängt, zu weinen und dann wieder zum kleinen Jungen wird, der die Wärme der Umarmungen seiner Eltern wieder wahrnehmen kann – von denen er zuvor entrückt war. Genial und berührend! Dieses Bild kann man mit seinem Kind in solchen Situationen wunderbar aufgreifen! Ein kleiner Wermutstopfen, über den man aber hinwegsehen kann, dass seine Eltern, die ansonsten schön dargestellt werden, in einer Phase etwas ohnmächtig schimpfen. Aber was für ein Unterschied zu sonstigen „Wutmonstern“, die man wegschicken muss, um wieder bei Papa am Tisch sitzen zu dürfen. Beim Lesen kann ich die Emotionswelle des kleinen Jungen zu richtig miterleben!
Von Angst und Mut
In „Hast du Angst?“, fragte die Maus von Rafik Schami und (wieder) Kathrin Schärer geht ein unerschrockenes Mäusekind auf die Suche nach der Angst und hört unterschiedliche Antworten, kann sie aber noch nicht selbst empfinden – bis sie der Schlange begegnet… doch zum Glück findet sie rechtzeitig nach Hause zu Mama, denn, wo Mama ist, verschwindet die Angst! Eine Erkundungsreise der besonderen Art.
Ganz ähnlich ist auch die Antwort auf Angst in dem von Angela in diesem Blog-Artikel beschrieben Buch Gehen wir heim, kleiner Bär von Martin Waddell und Barbara Firth der Große die Antwort.
Ein seltenerer Aspekt von Mut wird in dem Bilderbuch mutig, mutig von Lorenz Pauli und wiederum Kathrin Schärer behandelt. Frosch, Maus und Schnecke wollen aus Langeweile eine Mutprobe machen, dann kommt der Spatz dazu. Als er an der Reihe ist, meint er überraschend, dass er nicht mitmacht – kurz sind alle irritiert – und merken dann: „Das ist mutig!“. Ausdrucksstarke Zeichnungen von Kathrin Schärer machen dieses Büchlein zu einem besonderen Vergnügen (siehe oben).
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Ein bekanntes und zeitloses Kinderbuch ist natürlich Wo die wilden Kerle wohnen von Maurice Sendak. Auch wenn ich natürlich mit dem Anfang (die Mutter bestraft das Kind mit Zimmerarrest, weil er zu wild war), nicht gutheißen kann, so ist doch der weitere Verlauf der Geschichte wunderschön. Denn aus Max‘ Angst, allein im Zimmer zu sein, wird eine Abenteuerreise, bei der er Mut angesichts der Monster, die ihm begegnen, entwickelt und dadurch wieder zu seinem weichen Herzen findet: Er bekommt dann Heimweh, macht sich auf den Weg nach Hause und findet dann auch noch ein warmes Essen vor, das ihm die Mutter doch noch gemacht hat. Insbesondere, wenn man das Alter des Buches (1963) bedenkt, so ist es ein ganz besonderer Schatz.
Zum Weinen schön: Terry Gross interviewt Maurice Sendak*
An dieser Stelle noch der Hinweis auf das sehr berührende, kurz vor seinem Tod entstandene Interview für den amerikanischen Sender NPR im September 2011 im Alter von 83 Jahren (hier ein Ausschnitt in der illustrierten Version von Christoph Niemann
Hier eine besondere Stelle, frei übersetzt: „Ich bin nicht unglücklich. Ich weine viel, weil ich Menschen vermisse. Sie sterben, und ich kann sie nicht aufhalten. Sie verlassen mich und ich liebe sie umso mehr. ... Es gibt so viele schöne Dinge auf der Welt, die ich zurücklassen muss, wenn ich sterbe, aber ich bin bereit, ich bin bereit, ich bin bereit."
(Titel von Johanna Ardoján, Süddeutsche Zeitung)
Warum Weinen wichtig ist***
Dies ist die beste Überleitung zu einem weiteren wichtigen Thema: Dem Umgang mit Tränen. Why do you cry? Not a sob story von Kate Klise (dt.: Warum weinst du denn?, nicht übersetzt, antiquarisch). Das kleine Häschen wird 6 Jahre und lädt seine (bemerkenswert (!): älteren) Freunde ein – aber nur, wenn sie schon so groß sind wie es selbst und nicht mehr weinen. Zu seiner Überraschung muss es feststellen, dass dann leider niemand kommen würde! Alle weinen noch – aus verschiedenen Gründen – und finden das sogar noch gut! Als ihm schließlich auch seine Mutter anvertraut, warum sie manchmal weinen muss, ändert es seine Meinung und kann in sich vereinbaren, dass Tränen und Älterwerden anscheinend doch zusammenpassen. So schön in unserer tränenlosen Gesellschaft! Dazu fällt mir eine Stelle aus September Tears von der der schwedischen Sängerin Sophie Zelmani ein, das ich schon seit fast zwei Jahrzehnten immer wieder höre – und immer wieder berührt bin: And the best time for answers might be when we cry. Aren`t we really, really feeling when we cry? Aren`t we really really living when we cry?
Die kleine Sorge von Anne Herbauts ist die Geschichte von Archibald, dem Bären, der eines Tages mit einer Wolke über dem Kopf aufwacht, die sich einfach nicht vertreiben lässt - egal, was er tut, er wütet und schimpft, er ruft sich nach seiner Mama (auch schön – aber sie ist grad nicht da – er wird schon ein erwachsener Bär sein, mein ich mal). Er isst (sehr viel) – aber auch das hilft nicht. Wegsehen und wegpusten wollen, auch nicht. Doch dann weint er – und die Wolke auch – und ist verschwunden! Eine wunderschöne Geschichte von der transformierenden Kraft der Tränen – und was eben nicht hilft bei schlechter Laune oder Depression, wie hier zart angedeutet wird.
Defensive Bindungsabwehr auflösen
Das Herz in der Flasche von Oliver Jeffers: Es könnte sein, dass dieses Buch eher eins für Erwachsene ist, das habe ich noch nicht erprobt. Die Geschichte ist jedenfalls sehr gut. In schönen, schlichten Worten und Bildern, sehr indirekt, wird beschrieben, wie ein Mädchen durch die Bindung an ihren Großvater aufblüht – und nach seinem anscheinend überraschenden Tod so überwältigt von dem Verlust ist, dass sie sich panzert (ihr Herz in eine Flasche steckt), weil sie sich nicht anders zu helfen weiß. Doch nun wird auch alles andere grau und sie hat keinen Zugang mehr zu ihrer Fantasie. Zum Glück kann sie sich auch wieder öffnen – in der Alpharolle und im Spiel. Das Spiel befreit ihr Herz! Und nun sprudelt es in ihr auch wieder – und die Trauer wird Teil ihres Lebens.
Gustav Grummelbär von Steve Smallman ist eine schöne Geschichte von defensiver Bindungsabwehr und wie sie aufgelöst werden kann. Sie ähnelt dem Muster vom Zauberer Kotzmotz von Brigitte Werner für ältere Kinder. Ein grummeliger Bär ist einsam, alle meiden seine Gesellschaft – bis ein neugieriges Häschen kommt, das sich nicht einschüchtern lässt und von da an verändert sich etwas in Gustav. Er wird weniger grummelig, lächelt nach langer Zeit mal wieder und beginnt, wieder in Beziehung zu gehen und das Leben zu genießen.
Mit diesem einstweiligen Ende wünsche ich viel Freude beim Entdecken der großen und kleinen Emotionen deiner Kinder mit Hilfe dieser schönen Bücher!