Gedichtige Gedichte

Vom Spiel in Kinderbüchern

Viele wunderbare Beschreibungen von Kinderspielen gibt es, wie sich viele sicher erinnern werden, bei Astrid Lindgren – ganz besonders bei den Kindern von Bullerbü. Denn diese sind in einen sicheren Rahmen von fürsorglichen Erwachsenen eingebettet. Das Kapitel Wir spielen ganze Tage ist mir besonders im Gedächtnis geblieben.

Neulich las ich in Astrid Lindgrens autobiographischem Buch Das entschwundene Land über ihre Kindheit in Näs, die als Inspiration für Bullerbü diente, über ihr Kindheitsspiel:

Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit. Wir fühlten uns geborgen bei diesen Eltern, die einander so zugetan waren und stets Zeit für uns hatten, wenn wir sie brauchten, uns im Übrigen aber frei und unbeschwert auf dem wunderen Spielplatz, den wir in dem Näs unserer Kindheit besaßen, herumtollen ließen. Gewiss wurden wir in Zucht und Gottesfurcht erzogen, so wie es dazumal Sitte war, aber in unseren Spielen waren wir herrlich frei und nie überwacht. Und wir spielten und spielten und spielten, sodass es das reinste Wunder ist, dass wir uns nicht totgespielt haben. Wir kletterten wie die Affen auf Bäume und Dächer, wir sprangen von Bretterstapeln und Heuhaufen, dass unsere Eingeweide nur so wimmerten, wir krochen quer durch riesige Sägemehlhaufen, lebensgefährliche, unterirdische Gänge entlang, und wir schwammen im Fluss, lange bevor wir überhaupt schwimmen konnten. Keinen Augenblick dachten wir an das Gebot unserer Mutter „aber nicht weiter raus als bis zum Nabel!“. Überlebt aber haben wir alle vier.

Unsere Kindheit war ungewöhnlich frei von Rügen und Schelte. Dass unsere Mutter nicht mit uns zankte, mag daran gelegen haben, dass man ihr meistens gleich gehorchte, wenn sie etwas anordnete. Sie war es, die uns erzog, und ich kann mich nicht entsinnen, dass Samuel August [der Vater] sich da je eingemischt hätte. Hannas Art der Kindererziehung war, so finde ich, recht großzügig. Dass man zu gehorchen hatte, war selbstverständlich, aber sie stellte nie unnötige und unerfüllbare Forderungen. […] Sie zeterte nicht über Missgeschicke, für die man nichts konnte. […] Diese Freiheit zu haben, hieß aber keineswegs, ständig frei zu haben. Dass wir zur Arbeit angehalten wurden, war die natürlichste Sache der Welt. Schon mit sechs Jahren mussten wir beim Rübenverziehen und Rupfen der Brennnesseln für die Hühner helfen.

(Ausgabe des Oetinger Verlags 1983, S. 34, Kapitel 1: Samuel August von Sevedstorp und Hanna in Hult)

Dies berührte mich sehr und machte mich auch nachdenklich, ob ein solches Spiel heute für Kinder noch möglich ist? Ich wünsche mir sehr, dass meine Tochter so etwas noch erleben wird.

Wir leben zu anderen Zeiten und es ist sicher besser, dass heute beim Thema unbeaufsichtigtes Schwimmen besser aufgepasst wird und die Kinder nicht mehr beim Rübenverziehen helfen müssen. Interessant finde ich jedoch, wie viel Zeit offenbar trotz alledem zum Spielen blieb! Heutzutage gibt es so viele Warnungen, wie dramatisch die Zeit, die Kinder noch zum freien Spiel, geschweige denn dem Spiel in der Natur, haben, in den letzten Jahrzehnten gesunken ist. Buchtitel wie Das letzte Kind im Wald (Richard Louv) oder Rettet das Spiel (Gerald Hüther und Christoph Quarch) sprechen im wahrsten Sinne des Wortes Bände.

Zudem geht aus ihrer Beschreibung hervor, was dieser Rahmen bedeutet, den ein Kind zum Spiel braucht: Wohlwollende Eltern, die ihnen genügend Freiheit zum Spielen geben, im fürsorglichen Alpha sind und bindungsbasierte Disziplinierungsmaßnahmen anwenden. Und ihnen auch signalisieren, wann es Zeit zum Spielen ist und wann etwas anderes dran ist. In diesem Ausschnitt erkennen wird, dass alle Kriterien erfüllt sind und das Spiel sich so wunderbar für sie entfalten konnte, dass sie auch als Erwachsene (mit übrigens keinem so wunderbaren Start in ihre eigene Elternschaft) so viele nachfolgende Generationen mit ihrer Fantasie bereichern konnte.

 
 

Glücklicherweise ist dem Spiel die physische Umgebung egal und es entfaltet trotzdem seine magische Wirkung. Hier einige Ausschnitte, wie Spiel sich seinen Weg bahnt und uns hilft, zu wachsen.

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Eine besondere Empfehlung gibt es für die Bücher von Peter H. Reynolds. In mehreren Geschichten hat er Besonderheiten zum Thema Spiel in Bilderbuchform verpackt: In Ramons Atelier geht es darum, wie wichtig es ist, dass keine Bewertung stattfindet und das Kind in eine Art Flow kommt. Ramon hatte diesen beim Malen, bis sein großer Bruder fragt: „Was ist DAS denn?“. Danach fällt es ihm schwer, wieder ins freie Malen zu finden. Erst als er erfährt, dass seine kleine Schwester seine weggeworfenen Bilder sammelt und ihn ermutigt, weiterzumachen, kommt er wieder in den Flow. Der Wendepunkt ist, es nicht zu bewerten und es nicht perfekt machen zu wollen – eine Vase, ein Haus, einen Baum. Sie meint, dass es alles eben vasich, hausich oder baumich ist (funktioniert auf Deutsch schlechter, auf Englisch lautet der Titel auch Ish („houseish“), also ein Wortzusatz für ungefähr). Nun ist seine Kreativität wieder frei und er fängt sogar an, Gedichte zu schreiben (gedichtige Gedichte). Das ist genau der Punkt beim Spiel, dass es nicht um das Ergebnis, sondern das Tun geht und es keine Arbeit ist (ein perfektes Haus zu machen), sondern mehr auf den Selbstausdruck ankommt.

 
 

In dem Buch Der Punkt geht es um ein ähnliches Thema. Ina meint, sie könne nicht malen. Doch dann ermutigt ihre Lehrerin sie auf humorvolle Weise (Ina zeigt ihr ein weißes Blatt und sie antwortet: „Oh, ein Eisbär im Schneesturm?“). Nun soll sie einfach mal mit einem Punkt beginnen – und setzt damit ihre Kreativität frei. Ihre Bilder kommen auf einer Schulausstellung wunderbar an und ein Kind ist so beeindruckt von ihr, und spricht sie wie eine große Künstlerin an. Und Ina gibt genau das, was sie von ihrer Lehrerin bekommen hat – nämlich die Ermutigung, einfach anzufangen - weiter.

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In dem Klassiker Frederick von Leo Lionni wird gezeigt, dass neben der Arbeit auch das Spiel seine Berechtigung hat. Während nämlich alle anderen Mäuse Wintervorräte sammeln und einlagern, sammelt Frederick Farben und Sonnenstrahlen und Wörter. Zunächst lachen die anderen darüber, doch als der Winter grau und trist wird, sind sie froh über Fredericks Geschichten der Farben und Sonnenstrahlen des Sommers.

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 Alles, was an Großem in der Welt geschah, vollzog sich zuerst in der Phantasie des Menschen.

Astrid Lindgren

Um andere Form von Spiel geht es bei der Gute-Nacht-Geschichte Wenn ich groß bin von der schon mehrfach erwähnten Debi Gliori (antiquarisch erhältlich, englischer Titel: When I`m big). Der Junge im Buch möchte nicht ins Bett gebracht werden und denkt sich, dass er, wenn er groß ist, dann dafür seine Eltern ins Bett bringt.  Und er fängt eine Fantasiereise an – Wenn ich groß bin, dann habe ich Löwen und Tiger statt einer langweiligen Hauskatze… usw. Bis er dann letztlich eben seine Eltern ins Bett bringt, das Licht ausmacht und nach unten geht – und dann langsam merkt, wie dunkel es da ist und was da für Schatten lauern – und nun beendet er sein Spiel: Wenn ich groß bin, bin ich doch lieber wieder klein, denn dann kann ich mich an den gemütlichsten Platz der Welt kuscheln – ins Bett meiner Eltern. Dort ist er auch sehr willkommen – sein Spiel hat also keine Auswirkungen auf die Realität, wie es leider immer wieder in Erwachsenenmanier heißt: Wer A sagt, muss auch B sagen. Nein! Im Spiel kannst du alles sagen und es zählt nicht! Hier kann das Kind üben groß zu sein und wenn es an seine Grenzen gegangen ist, kann es gefahrlos zurückkehren in sein reales Selbst und ist geborgen bei den Eltern.

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In Fancy Nancy von Jane O´Conor (leider nur auf Englisch) geht es um ein vermutlich hochsensibles Mädchen, das sich im Spiel mit extravaganten Verkleidungen und dazugehörigem Auftreten auf Identitätssuche macht. Sie empfindet sich anders als ihre „langweilige“ Familie und probiert mit all diesen Veränderungen ihr eigenes Selbst aus. Das überbordend Rosa-Glitzernde in diesem Buch mag manche vielleicht irritieren und nicht jedermanns (-frau 😉) Geschmack sein. Normalerweise kann ich damit auch nicht viel anfangen, in diesem Fall bietet die Geschichte jedoch etwas Außergewöhnliches. Nancy möchte ihre Familie einbeziehen und ihr zeigen, was es heißt, fancy zu sein (sie ist also nicht gleichaltrigenorientiert im Unterschied zu ähnlich gearteten Plots). Ihre Eltern und die kleinere Schwester lassen sich auf das Spiel ein und putzen sich heraus. Es wird ein lustiges, gemeinsames Verkleiden, in dessen Verlauf alle zusammen in ein Restaurant gehen. Als jedoch Nancy dort über ihre mit Schnüren gebundenen Schuhe stolpert und alles Eis auf dem Boden landet, ist das Spiel schlagartig vorbei – und sie wird ganz liebevoll von ihren Eltern aufgefangen (ähnlich wie bei Wenn ich groß bin).

Es gibt noch weitere Folgen von Nancy, über die ich derzeit jedoch noch nichts schreiben kann, weil ich sie nicht kenne. Die bei der Recherche entdeckte Disneyserie scheint mir jedoch nicht empfehlenswert.

In diesem Sinne – lasst eure Kinder spielen – und euch gleich mit!

 
 
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