Von Angsthasen & Draufgängern

Warum eine Beziehung zum inneren «Alarm» so wichtig ist für Kinder – und wie wir ihnen helfen können, ihr Alarmsystem zu kalibrieren

 
 

Eine der wunderbaren Welten, die sich mir in den letzten Jahren erschlossen hat, ist die Wahrnehmung von und der Umgang mit «Alarm».

Zu «Ängsten» hatte ich jahrelang eine belastete Beziehung, denn wer will schon als ängstlich gelten?!

Als Kind war das so etwas wie die Höchststrafe für mich: Ängsten stellt man sich und dann sind sie verschwunden, denn wer mutig und tatkräftig ist, der kennt keine Angst. So oder ähnlich war das Mindset meiner Kindheit.

Aber «Alarm»…? – Nun ja, da hatte ich keine Vorbehalte, denn Alarm ist ja grundsätzlich etwas Sinnvolles.

Oder wie sonst sollten wir vor Feuersbrunsten flüchten oder uns vor heranrasenden Lastwagen in Sicherheit bringen, wenn nicht unser inneres System Alarm schlagen oder von Mitmenschen ausgelöst würde? Zumal der Alarm dann auch noch alle zur Verfügung stehenden Ressourcen in uns aktiviert, um den Sprung aufs Trottoir oder die Flucht aus dem brennenden Haus zu schaffen?

Unser inneres Alarmsystem ist also überlebenswichtig. Nur: Es sollte richtig kalibriert und ein gesunder Umgang damit erfahren werden dürfen. So geben wir unseren Kindern die Möglichkeit, den Angsthasen und den Draufgänger in sich zu erfahren und sich als Erwachsene irgendwo zwischen der sprichwörtlichen Paralyse des Angsthasen und dem Leichtsinn des Draufgängers einzupendeln.

Wir Eltern wissen: Es bedarf einer ziemlich komplexen Entwicklung bis ein Kind erkennen kann, was in unserer Welt bedrohlich ist und was nicht – angefangen von der heissen Herdplatte über spitze Messer bis hin zu Flussböschungen, stark befahrenen Strassenkreuzungen oder den Untiefen des Internets. Diese Entwicklung braucht Zeit und – mindestens so wichtig - Übungsmöglichkeiten. Unsere Kinder vor allem Alarmierenden zu beschützen, ist also nicht sinnvoll – wir nehmen ihnen so die Übungsfelder weg, anhand derer sie ihr Alarmsystem kalibrieren könnten.

Wie aber funktioniert diese Kalibrierung?

Nun, ein Stück weit funktioniert das automatisch und ein Stück weit können Kinder das alleine (dann gerne in echtem Spiel wie wir es hier beschrieben haben).

Ganz oft aber brauchen Kinder uns Eltern oder andere fürsorgliche Erwachsene - und zwar in mehrfacher Hinsicht.

Hier ein paar Überlegungen, die alle ineinander hineinspielen und die wir Erwachsenen beachten sollten - und zwar anhand von ein paar gängigen Alarm-/Angst-Beispielen (im Wissen darum, dass das Thema Alarm/Ängste viel komplexer und subtiler sein kann als beim Beispiel mit dem Sturz auf die Steinplatte).

Wer kennt es nicht: Das Kind stürzt und noch bevor es weiss, wie es reagieren soll, folgt der Blick zu Mama oder Papa: «Ist die Mama erschrocken? Hat der Papa stellvertretend für mich ein schmerzverzerrtes Gesicht oder macht er sich gar Sorgen…?»

Diese Orientierung an uns Erwachsenen macht Sinn, denn unsere Reaktion gibt dem Kind einen ersten Anhaltspunkt um zu erkennen, wie schlimm das, was da gerade geschehen ist, wirklich ist.

Wenn wir den Sturz auf die Steinplatte durch einen lauten Knall vor dem Haus ersetzen, erschliesst sich uns dieser Sinn sofort, da das Kind den Ursprung des Geräuschs nicht einordnen und entsprechend auch die Folgen nicht abschätzen kann.

Beim Sturz auf die Steinplatte hingegen kann die Orientierung an uns dem Erforschen der eigenen Reaktion im Weg stehen.

Doch genau hier ist es wichtig, dass das Kind selbst erkennen darf, ob der Aufprall nun zu heftig war und wie es darauf reagieren möchte. Wer mehr als ein Kind kennt, weiss, dass Kinder ganz unterschiedlich auf Stürze reagieren, und zwar jenseits aller (Geschlechter-)Klischees. Deshalb ist es wichtig, dass wir unserem Kind mit unserer Reaktion den Raum und den Augenblick schenken, um in sich hinein zu spüren: «Was löst das in mir aus? Ist es so schlimm, dass ich das Spiel unterbrechen und meine Mama aufsuchen muss? Oder hatte ich nochmal Glück und bin primär erschrocken…? Und überhaupt, was ist da gerade passiert und wieso und was könnte ich daraus lernen?»

Spätestens hier wird offensichtlich, wie wichtig es ist, dass wir Erwachsene selbst eine Beziehung zu unserem Alarmsystem (oder zu unseren «Ängsten», wie ich gerade Mütter oft sagen höre*) aufgebaut haben.

Ich weiss, dass es nicht immer ganz einfach ist, in solchen (Sturz-)Situationen unseren eigenen Alarm nicht mit uns durchgehen zu lassen und hysterisch schreiend auf das Kind zuzustürzen. Doch mit der Zeit und mit dem Wissen um die Wichtigkeit von Alarm habe ich gelernt, ruhiger zu reagieren: Ich beobachte mein Kind und versuche, seine Reaktion zu lesen (statt umgekehrt). Und natürlich bin ich dann sofort zur Stelle, wenn ich in den Augen meines Kindes Schmerz sehe – aber ich bin nicht zur Stelle, um meinen eigenen aufkommenden Alarm zu dimmen, in dem ich meine Fürsorglichkeit ausleben kann, sondern um meinem Kind den Raum zu geben, um sich seinem Innenleben (Schmerz, Frustration, Alarm etc.) zu stellen.  

Das gilt natürlich alles nur für die vielen harmlosen Unfälle, die nicht in aufwändigen Behandlungen oder gar auf dem Kindernotfall enden. Und ganz wichtig:

Natürlich gehört es auch zum Job von uns Eltern, unsere Kinder vor wirklich halsbrecherischen Aktionen zu bewahren – vor halsbrecherischen, und nicht vor knieschürfenden, wohlgemerkt.

Eine Schaumstoff-Matte unter dem Trapez resp. auf dem Betonboden oder eine Verlagerung des Spiels weg von der Strasse und hinein in den Garten - solches gehört definitiv zu unserem Aufgabenbereich.

«Muesch doch kei Angscht ha…!»

Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass der Umgang mit Ängste erst in einem zweiten Schritt auf der kognitiven Ebene geschieht. Es nutzt nichts, unseren Kindern zu erklären, dass es keine Monster unter dem Bett gibt resp. dass es keine Angst vor dem bevorstehenden Test oder dem Klassenlager zu haben braucht. Natürlich macht unsere Argumentation rational Sinn, nur hilft das den Kindern nicht weiter:

Wenn wir nicht die Emotionen ansprechen und unseren Kindern helfen, mit ihrem Innenleben in Kontakt zu kommen, werden sie diesem weiterhin ausgeliefert sein.

Warum Sätze wie «Muesch doch kei Angscht ha…!» deshalb keinen Sinn machen resp. sogar kontraproduktiv sind, habe ich hier ausführlich beschrieben.


Ja, und dann brauchen wir Eltern auch ein waches Auge für den Alarm-Level in unseren Kindern – und das ist in unserer hektischen Welt wohl wichtiger denn je!

Denn wenn unser Alarmsystem dauernd hornt und auf Hochtouren läuft, schadet es unserem Überleben mehr, als dass es ihm dient.

Wir können nicht dauernd all unsere zur Verfügung stehenden Ressourcen aktiviert haben – unser System und allen voran unsere Nebenniere braucht auch mal Pause!

Das heisst also, dass wir zum einen Verständnis für die Quellen von Alarm in unseren Kindern entwickeln sollten. Und dass wir zum anderen Räume und Möglichkeiten anbieten sollten, damit unsere Kinder ihren Alarm im Spiel ausdrücken und mit ihm in Beziehung treten können. Mehr dazu in den nächsten Blog-Einträgen!

 

* Was ich in Gesprächen und Beratungen oft erlebe, sind Eltern (vorwiegend Mütter), die ihre Ängste als gegeben hinnehmen im Sinne von: «Ja, da kann ich auch nichts dafür, das sind einfach meine Ängste, die das mit mir machen…» - Und genau hier finde ich das Konzept von Alarm so hilfreich: Es ist ganz neutral (mein Alarm will mich vor etwas warnen) und nicht so irrational, wie uns Ängste oft erscheinen, und deshalb können wir mit Alarm viel einfacher in Kontakt treten als mit Ängsten. Wer da tiefer eintauchen will: Mit dieser Podcast-Serie geht das.

Bild: Marjonhorn, Pixabay

Zurück
Zurück

Die Mama, das Baby-Monster

Weiter
Weiter

Was tun, wenn die Tochter introvertiert und eifersüchtig ist?