Was bitte schön heisst «erwachsen sein»?!
Warum Erwachsen-Sein mehr umfasst als «Gesellschaftstauglichkeit» - Oder: Warum ich mir für meine Kinder den Bergweg wünsche
Ob wir von Pubertät oder von Adoleszenz sprechen, ob wir die Teenager*-Zeit als eigenständigen Lebensabschnitt oder als Brücke sehen - eins steht fest: Das Ziel am Ende - quasi als Gegenstück zur Kindheit - heisst «Erwachsen-Sein». So viel scheint klar, nur, …
… was bitte schön heisst das genau - «erwachsen sein»?
Vor dem Gesetz gelten wir mit 18 Jahren als «erwachsen», was sich u.a. darin zeigt, dass wir abstimmen und wählen dürfen, dass die AHV anklopft und wir nicht mehr dem Jugendstrafgericht unterstellt sind. Umgangsprachlich meinen wir mit Erwachsen-Sein aber meist mehr als die erlebten 18 Lenze: Das eigene Geld verdienen und niemandem mehr auf der Tasche liegen gehört ebenso dazu wie für sich selbst sorgen und bspw. eine Steuererklärung aus- resp. die Waschmaschine korrekt be-füllen zu können. .
Ist diese «Gesellschaftstauglichkeit» das, was wir meinen, wenn wir von uns «Erwachsenen» sprechen im Gegensatz zu Kindern oder Jugendlichen? - Oder gehört da noch etwas mehr dazu? - Ich finde: Ja, ganz unbedingt!
Wirklich erwachsen zu sein heisst für mich,
eine Beziehung nicht nur zu anderen, sondern auch zu sich selbst zu pflegen;
sich selbst zu kennen, mitsamt den eigenen Bedürfnisse, Vorlieben, Talenten, Baustellen, Narben oder Grenzen;
Verantwortung für all dieses «Eigene» zu übernehmen - gegenüber anderen und vor allem auch gegenüber sich selbst;
für sich selbst einstehen zu können, ohne dabei die anderen oder die Gesellschaft aus den Augen zu verlieren.
Auf diese ideale Weise «Herangewachsene» sind fähig, Gemeinsamkeit zu leben ohne den Verlust der Eigenständigkeit – und das bedeutet weit mehr als die oben beschriebene Gesellschaftstauglichkeit.
Bergweg oder Spazierweg?
Der Weg dorthin - zu einem «individuierten** Selbst» - ist kein Spaziergang, das wissen all diejenigen unter uns, die sich irgendwann im Erwachsenenalter in Coachings oder Therapien auf den Weg gemacht haben, um sich selbst besser zu verstehen resp. kennen zu lernen.
Oder in Bildern gesprochen: Der Weg zur Individuation ähnelt eher einem Bergweg denn einem kinderwagentauglichen Spazierweg - ein Weg, der über Stock und Stein und Wurzeln führt, der nicht mit Anstiegen oder Steilhänge knausert und ab und an gar mit Kletter- oder Rutschpartien aufwartet, der nebelreich und reich an Weggabelungen und Umwegen ist, der uns ausser Atem bringt und uns atemberaubende Aussichten bringt.
Genau so ein Weg ist der Weg über die Brücke der Adoleszenz: Er ist gepflastert mit Herausforderungen, äusseren und vor allem auch inneren - ein richtiger Bergweg. Doch der Weg über die Brücke ist auch gesäumt mit unzähligen Versuchungen, die unsere Jugendlichen vom Bergweg ab- und zum Spazierweg bringen. Um wiederum mit einem Bild zu sprechen:
Die Herausforderungen und Entwicklungsschritte, die unsere Jugendlichen während der Adoleszenz antreffen, sind wie Hürden, die überspringen muss, wer «wirklich erwachsen» werden möchte, und denen ausweichen resp. die ignorieren kann, wer den Versuchungen erliegt.
Unsere Jugendlichen können also selbst wählen, welchen Weg sie nehmen: Den Bergweg der Individuation oder den Spazierweg, der zu Konformität führt. Wobei - so einfach ist das nicht!
Wenn die Erwachsenen um sie herum kein Verständnis für diese Herausforderungen und nach den anstrengenden (Klein-)Kindjahren auch keine Energie und keine Zeit mehr haben für die herausfordernde Begleitung von Jugendlichen, werden ihnen von unserer Leitkultur (darf man das sagen?) die Versuchungen auf dem Silbertablett resp. am Fliessband präsentiert:
Die Herausforderungen haben nämlich immer mit Emotionen zu tun, die gefühlt werden möchten, und das ist anstrengend und potentiell sehr verletzlich. Und die wohl grösste Versuchung, um dem Fühlen aus dem Weg zu gehen, ist omnipräsent: Sie hat unterschiedliche Formen, trägt immer einen Bildschirm und kommt in Gestalt von Netflix, Social Media, Gaming etc. daher.
Unter anderem deshalb brauchen Teenager uns Erwachsene: Damit wir ihnen den Bergweg zeigen, gerade wenn alle andern den Spazierweg wählen, damit wir ihnen bei Kletter- oder Rutschpartien zur Seite stehen, mit ihnen bei Weggabelungen sitzen, bis sich der Nebel lichtet, und ihnen Ruhezonen und Freiräume schaffen, in denen sie Atem schöpfen und ihre Emotionen fühlen können.
Das ist der Weg, den ich mir für meine Kinder und überhaupt für alle Kinder wünsche, denn die Verbindung zu sich selbst ist die Grundlage, um mit anderen Menschen und überhaupt mit der Natur und der Schöpfung verbunden zu sein - und das ist es, was unsere Welt so dringend braucht!
PS. Mehr zu den Entwicklungsschritten in unserer Podcast-Serie «Teenager verstehen - geht das?!? » oder in unserem Intensiv-Kurs «Teenager verstehen»:
* Der Begriff Teenager (verkürzt auch teen) bezieht sich eigentlich nur auf Menschen im Alter zwischen 13 (thirteen) und höchstens 19 (nineteen) Jahren, umfasst aber manchmal (fälschlicherweise) auch jüngere und ältere Menschen. Die Zahlen 13 bis 19 enden im Englischen auf teen, die Endung ager bezieht sich auf das englische Wort age für (Lebens-)Alter.
** Den Begriff des Individuums mag ich ganz besonders: Er stammt vom Lateinischen und heisst das Unteilbare (schön ersichtlich im Englischen in-divisible)