Was denn nun: Pubertät oder Adoleszenz?!?
Warum wir von Adoleszenz sprechen (und dass der Unterschied zwischen den beiden Begriffen keine Haarspalterei ist!) – Oder: Warum es hilft, die Adoleszenz als Brücke zu sehen
Ich mag Sprache und ich mag Wörter. Und ich gehe Wörtern gerne auf den Grund und beleuchte ihre Herkunft (also ihre «Etymologie»*), denn das hilft mir die Wirklichkeiten zu verstehen, die wir mit Worten und Sprache schaffen. Und das gilt auch für die herausfordernde Phase, in die unsere Kinder irgendwann in der Mittelstufe starten: Viele nennen sie Pubertät und das ist nicht grundsätzlich falsch - und doch spreche ich lieber von Adoleszenz.
Adoleszenz ist wohl bei den wenigsten Teil des Alltagswortschatz. Es klingt deshalb immer etwas hochgestochener und elitärer als Pubertät und wirkt somit für manche auch abschreckend – und das ist schade, denn der Unterschied zwischen den beiden Begriffen ist mehr als eine Haarspalterei: In diesem Spalt versteckt sich viel Wahr- und Weisheit! Und deshalb möchte ich die Begriffe hier gerne auseinanderdröseln und aufzeigen, warum ich meistens von Adoleszenz spreche.
Gleich vorneweg: Der Begriff Pubertät ist natürlich nicht falsch und auch die Aussage, dass unsere Kinder in die Pubertät und irgendwann wieder aus der Pubertät kommen, ist richtig – und gleichzeitig halt auch nur ein Teil des Ganzen.
Der Begriff Pubertät geht auf das lateinische pubertas (Geschlechtsreife, Mannbarkeit) zurück und legt den Fokus auf die biologische Veränderung auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen, auf die jedes Kind zwangsläufig zusteuert. Dazu gehören neben der geschlechtlichen Reifung auch Veränderungen im Körperbau und der ganze Hormon-Cocktail, der erst dazu führt – Stimmungsschwankungen inklusive.
Der Begriff Adoleszenz hingegen leitet sich von lateinischen adolescere ab und bedeutet heranwachsen, heranreifen oder erstarken – und wer keins in seiner Bekanntschaft hat: Der letzte US-Präsident ist ein leuchtendes Beispiel dafür, dass dieser Schritt nicht zwangsläufig geschieht. - Aber eigentlich geht es doch genau darum - ums Erwachsen-Werden, nicht ums Älter werden! Die englische Sprache greift diesen Unterschied wunderbar auf: grow old (alt/älter werden) versus grow up (erwachsen werden) - oder in den Worten der US-amerikanischen Schriftstellerin, Professorin und Bürgerrechtlerin Maya Angelou:
«Most people don’t grow up.
It’s too damn difficult.
What happens is
most people get older.»
Maya Angelou
Und eben: Für mich ist dieser Unterschied keine Haarspalterei - im Gegenteil! Hier versteckt sich spannende Fragen: Wie funktioniert Erwachsen-Werden, wie werden unsere Kinder «reif» und wie können wir Erwachsenen sie darin unterstützen? Oder anders gesagt: Was brauchen unsere Kinder, um auf ihrem Weg nicht nur älter (und in der Pubertät zwangsläufig auch geschlechtsreif) zu werden, sondern um «heranzuwachsen» und zu reifen?
Mir scheint, dass wir in unserer Gesellschaft über weite Teile einfach davon ausgehen, dass mit dem Alter auch die Reife kommt. Doch damit machen wir es uns viel zu einfach: Zum einen schreiben wir uns selbst Kraft unseres Alters einfach zu, reif und erwachsen zu sein - aber: Ha, schön wärs!!!
Und zum anderen sehen wir so weder die enormen inneren Herausforderungen, die sich unseren Jugendlichen auf ihrem Weg stellen, noch stellen wir uns der manchmal ebenso enormen Herausforderung, die Jugendlichen mit dem Ziel des «Heranreifens» vor Augen zu begleiten.
Weder noch - sondern unterwegs auf der Brücke
Wenn das Ziel Erwachsen-Sein heisst, dann hilft es, sich die Adoleszenz als Brücke vorzustellen, die einen Bogen spannt zwischen einem Ausgangspunkt (Kindheit) und einem Ziel (Erwachsen-Sein).
Wenn wir unsere Jugendlichen aus dieser Perspektive wahrnehmen, können wir im Auge behalten, woher sie kommen (Kindheit), wohin sie steuern (Erwachsensein) und welche grundlegenden Veränderungen der Weg über die Brücke im Innen und im Aussen mit sich bringt - denn ein Kleinkind unterscheidet sich ja ganz grundsätzlich von einem (reifen!) Erwachsenen.
Diese Perspektive kann hilfreich sein, um nicht in den Wirbeln und Untiefen der Teenager-Turbulenzen zu versinken - und sie hilft zu verstehen, wie exponiert unsere Teenies auf der Brücke sind, dass ihnen der sichere Boden unter den Füssen über weite Strecken fehlt, dass das Ziel je nach Position nicht immer in Sicht ist, dass die Brücke vielleicht zeitweise mitschwingt oder in Resonanz geht mit den eigenen Schritten und dass manchmal die eine und manchmal die andere Seite unwiderstehlich verlockend erscheinen kann.
Das sind einige der Gründe, warum unsere Jugendlichen in dieser ziemlich langen Zeit des Überganges oft hin- und herspringen zwischen dem einen Ufer und dem anderen (manchmal werden sie auch richtiggehend hin- und her geschleudert). Teenager-Eltern kennen das zu genüge: Im einen Moment argumentiert und reflektiert der Nachwuchs bereits wie eigenverantwortliche Erwachsene und fordert eine entsprechende Behandlung ein - und keine zwei Augenblicke später fühlt man/frau sich als Eltern zurückversetzt in die Kleinkind-Phase: Das Kind ist von einer Kleinigkeit überfordert und schiebt eine ausgewachsene Krise, oder es sucht richtiggehend den Schoss, die Fürsorge und die Geborgenheit der Erwachsenen. - Und ja, das ist wahnsinnig anspruchsvoll - und zwar für die Jugendlichen ebenso wie für uns Erwachsene, die wir sie begleiten.
Bleibt zu hoffen, dass wir Erwachsene richtige «Grown-ups» sind (und nicht nur «Grown-olds») und dass wir die Perspektive und den Blick aufs grosse Ganze nicht verlieren - unsere Jugendlichen haben den nämlich noch nicht.
PS. Mit unserer aktuellen Podcast-Serie «Teenager verstehen - geht das?!?» möchten wir den Blick von uns Erwachsenen auf die enormen inneren und emotionalen Herausforderungen, die sich unseren Kindern auf dem Weg über die Brücke stellen, schärfen.
*Etymologie leitet sich ab vom Altgriechischen ἐτυμολογία etymología, das sich zusammensetzt aus ἔτυμος étymos (wahr, echt, wirklich) und λόγος lógos (Wort, Rede) – also in etwa «die einem Wort innewohnende Wahrheit».
** “Die meisten Menschen werden nicht erwachsen. Es ist einfach zu schwierig. Stattdessen werden die meisten Menschen einfach älter”. (eigene Übersetzung)