Wenn die Sommerferien ins Wasser fallen

Wie wir mit geplatzten Ferienträumen und anderen Enttäuschungen, die die ganze Familie betreffen, umgehen können - ein Sammelsurium an Gedanken und Anregungen

 
 

Nicht, dass ich das jemandem wünschen oder den Teufel an die Wand malen möchte, doch ist wohl keine Familie davor gefeit, dass alle zusammen, also die Kleinen ebenso wie die Grossen, herbe Enttäuschungen erleben: Die Ferien fallen wetterbedingt ins Wasser oder - noch schlimmer - krankheitsbedingt ganz aus, die befreundete Familie sagt die gemeinsamen Campingferien kurzfristig ab oder die Hotelzimmer sind überbucht und der Ersatz gelinde gesagt minderwertig.

Und natürlich beziehen sich solche Familien-Enttäuschungen nicht «nur» auf Ferien: Auch die Party zum runden Geburtstag kann Magendarm-Käfern zum Opfer fallen oder das Traumhaus im letzten Moment jemand anderem versprochen werden – und natürlich kommen solche Enttäuschungen auch in kleineren und alltäglicheren Dimensionen daher: Wenn am Ende der Wanderung ein geschlossenes Restaurant auf die hungrigen Berggänger wartet oder der Fahrplan falsch gelesen wurde und das letzte Postauto schon «uf u dervo» ist, beispielsweise.

In all diesen Situationen ist es so, dass alle damit zu knabbern haben – die Grossen genauso wie die Kleinen. Und das das stellt uns Grosse für eine doppelte, wenn nicht dreifache Herausforderung:

  1. Wir müssen mit unserer eigenen Frustration klarkommen, denn da funktioniert offensichtlich etwas grad gar nicht so, wie wir uns das vorstellen – was auch in uns die ganz grosse Emotions-Maschinerie anwirft;

  2. Gleichzeitig sind wir mit der Frustration unserer Kinder konfrontiert, welche in den allermeisten Fällen deutlich ungezügelter daherkommt als unsere eigene oder diejenige des anderen Elternteils (das hoffe ich zumindest) und nicht selten in Streitereien unter den Geschwistern endet.

  3. Und obendrauf ist es in den allermeisten Fällen so, dass wir Grossen ganz viel in das investiert haben, was nun als Scherbenhaufen vor uns liegt (sei es in die Ferienplanung, in einen Hauskauf oder in die Organisation des runden Geburtstagsfestes) und dass deshalb die Frustration auf Seite von uns Grossen berechtigtermassen gross ist. Leider findet diese Tatsache nicht nur bei den Kleinen kaum Anerkennung, sie führt auch dazu, dass wir zwangsläufig auch fürs Wegräumen der Scherben verantwortlich sind - und in manchen Fällen auch fürs Organisieren von Instant-Notlösungen.

Was also kann uns Grossen in solchen Situationen helfen? Was können wir tun, um solche Herausforderungen bindungsfreundlich und entwicklungsfördernd zu meistern?

Hier ein loses, aber erprobtes Sammelsurium an Gedanken und Anregungen:

  • Die Frustration anerkennen und verbalisieren – und zwar die eigene und diejenige der Kleinen: «Ah! Ich bin grad richtig frustriert, dass… - Jetzt haben wir uns so gefreut/jetzt haben wir so viel investiert und jetzt… - Ah, ich bin so enttäuscht, ich hätte das so gerne anders gehabt. Ich bin richtig traurig, dass… Und ich weiss, dass ihr euch auch so gefreut hättet und jetzt das! Es tut mir wirklich leid, dass das jetzt nicht zu Stande kommt…» - Dass es hilfreich ist, den Fokus auf die Frustration zu legen statt auf die Wut («Arrg, das macht mi so hässig…»), weil das der Kern des Problems ist, weil da ein Handlungsraum aufgeht und darin keine Schuldzuweisungen enthalten sind, das habe ich hier beschrieben.

  • In solchen Situationen ist es wichtig, dass die Kleinen auch die Enttäuschung der Grossen sehen und fühlen dürfen. Oft trauen wir uns das nicht, weil wir befürchten, alles noch schlimmer zu machen oder den Kleinen gar zu schaden. Doch Letzteres ist nicht so, wenn wir denn zwei Aspekte beachten: 1) Die Kleinen sind NICHT die Ursache der Frustration – und zwar so glasklar nicht, dass das auch dem Kleinkindhirn klar ist, das dazu tendiert, alles auf sich zu beziehen. 2) Die Frustration reisst uns nicht den Boden unter den Füssen weg, so dass wir unsere Kinder immer noch wahrnehmen und ihr Orientierungspunkt sein können. - Wenn diese beiden Punkte gegen sind, spricht nichts dagegen sondern viel dafür, dass wir unseren Kindern Einblick in unsere Innenleben geben: Sie lernen ja schliesslich am Modell.

  • Und das bringt uns gleich zum nächsten Punkt: In solchen Situationen sind die Kleinen orientierungslos. Sie haben meist keine Ahnung davon, wie das geschehen konnte und wie es nun weitergehen soll! Wie auch: Sie haben noch nie ein Hotelzimmer gebucht, ein Haus gekauft oder ein Fest für mehr als ihre Stofftiere organisiert. Und das heisst, dass sie sich in solchen Situationen naturgemäss an uns Grossen orientieren. Und das ist zum einen eine riesige Herausforderung für uns (Kinder lernen ja eben Modell), doch gleichzeitig liegt darin auch der Schlüssel zu einem entwicklungsfreundlichen Umgang verborgen: Unsere Kinder brauchen uns in solchen Situationen – und: Sie haben uns! Das ist das Wichtigste und das ist die Rolle, die im Moment ganz oben auf der Prioritätenliste stehen sollte. - Wenn die Grossen zu zweit sind, lässt sich das mit einer kleinen Absprache auch gut organisieren: Ein Elternteil widmet sich den Kindern* und der andere widmet sich dem Scherbenhaufen – das heisst, er/sie versucht zu verstehen, aufzuräumen und ggf. eine Notlösung zu organisieren. Und wenn es gerade nichts aufzuräumen oder zu organisieren gibt, dann nimmt sich dieser Elternteil die Zeit und den Raum, um die eigene Frustration auszudrücken und die Vergeblichkeit zu betrauen (siehe unten).

* Wem das schwerfällt, dem empfehle ich den Schaukelstuhl-Test: Stell dir vor, du bist 80 Jahre alt und schaust wippend auf dein Leben und auf ebendiesen Moment zurück. Was siehst du? Was war wirklich wichtig in dieser Situation?

  • Die Frustration muss raus – und zwar möglichst spielerisch! Dass und warum Emotionen wie innere Ladungen sind, die ausgedrückt und möglichst nicht gestaut oder weggepackt werden sollen, haben wir hier oder hier bereits beschrieben resp. besprochen. Vielleicht kann das nicht gerade im akuten Moment geschehen und es braucht eine Viertelstunde oder einzwei Tage Abstand. Das ist gar kein Problem – die Ladung löst sich nicht einfach auf! – Wir sollten uns aber auch nach einer Viertelstunde oder nach zwei Tage bewusst sein, dass da noch was ausgedrückt werden möchte. Meistens sehen wir’s unseren Kindern auch an (und vielleicht auch uns oder dem anderen Elternteil): Da und dort pufft giftgrüner Dampf in Form von Sticheleien, Rempeleien oder Streitigkeiten aus ihnen raus – ein sicheres Anzeichen dafür, dass die Lava im Innern am Brodeln ist und sich der Vulkan noch nicht abgekühlt hat.  Deshalb: Raus aufs Trampolin oder an den Fluss zum Steine-Schmeissen! Oder rein in Spasskämpfe, theatralische Einlagen oder Gesangs- resp. Fluch-Orgien!

  • Oft ist es so, dass unsere Kinder nach solchen Dampf-Ablass-Aktionen zu ihren Tränen finden – und das ist gut und richtig so. Tränen der Vergeblichkeit sind die Lösung der Natur, um mit solchen Situationen umzugehen – und vor allem sind sie der Schlüssel zu Resilienz: Denn nur wenn wir die Enttäuschung in allen Farben und Details fühlen können, kann unser System lernen resp. registrieren, dass wir diese unerträgliche Situation allen inneren Erwartungen zum Trotz überlebt haben und die Prognosen gutstehen, dass wir auch weitere ähnliche Situationen überleben werden. Deshalb sollten wir diese Tränen immer einladen, auch dann, wenn sie uns gerade ungelegen kommen.

  • Ablenken hilft nicht und sollte nur eine Notlösung sein. Oft sind wir versucht, unseren Kindern sofort Alternativen anzubieten: «Wir werden das Fest nachholen (im Wissen darum, dass das ewig dauern und nicht mehr dasselbe sein wird); wir kaufen dir was Schönes, weil die Ferien ins Wasser geflogen sind; du darfst jetzt dafür auf meinem Telefon was spielen…» In gewissen Situationen, gerade wenn wir als Vater oder Mutter alleine sind und der Scherbenhaufen dringend Aufmerksamkeit braucht, machen solche Ablenkmanöver durchaus Sinn. Sie lösen das Problem aber in den allermeisten Fällen nicht und vermitteln unseren Kindern, dass sie sich den Herausforderungen des Lebens nicht zu stellen brauchen, sondern diese einfach ausblenden oder mit Konsum überschreiben können.

  • Manchmal kommen Tränen und die ganze Enttäuschung auch verkleidet daher - gerade in Situationen, die im ersten Moment zu gross zum Fühlen sind. Dann haben die Kinder auf einmal Bauchweh und fordern so ganz viel Mitgefühl und Kuscheln ein. Oder die angestossene Zehe wird zur lebensbedrohlichen Verletzung erklärt – ein Ventil, um die ganze Frustration rauszulassen und ob der riesigen Schmerzen zu den Tränen zu finden. –  Wenn wir  Erwachsenen hier nicht hinter die Kulissen blicken können, sind solche Krisen unserer Kinder einfach nur eine zusätzliche Belastung resp. reine Zumutung («Jetzt haben wir gerade erfahren, dass… und du machst wegen dieser kleinen Schramme so ein Affentheater…!!!»). Wenn wir unseren Fokus aber auf die Emotionen legen, dann sehen wir, dass da ganz viel Frustration und Schmerz und Trauer rauskommt – und das im Moment das Wichtigste, egal, was der Aufhänger für das Affengeheul ist.

So viel zu meinem Sammelsurium.

Ob all das, was ich erzähle, den Alltag mit Kindern einfacher mache, wurde ich letzthin gefragt. Ich münze diese Frage gerne auf den Umgang mit Familien-Enttäuschungen um:

Macht mein Sammelsurium den Umgang mit solchen Situationen einfacher? – Nun, vielleicht ein klitzekleinwenig, denn anstrengend und herausfordernd bleiben sie auf jeden Fall. Was mir aber in solchen Situationen hilft ist die Gewissheit, dass ich – auch wenn taumle oder stolpere – zumindest in die richtige Richtung stolpere.

Und: Auf die Dauern helfen eine tragende Bindung, ein Bewusstsein für (die eigenen) Emotionen und eine spielerische Familienkultur in solchen Situationen definitiv!

Mit den besten Wünschen für eine leichtfüssige Sommerpause ohne grössere Familien-Enttäuschungen

Foto: 3081124 Pixabay

 
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