«Wo ist nur meine besonnene Neunjährige hin?!?»
Wieso egoistisches, gereiztes und übellauniges Verhalten ein erstes Anzeichen der Pubertät sein kann - Oder: Warum sich angehende Teenager oft kindischer benehmen als ihre jüngeren Geschwister
«Simona, ich brauch dringend ein Beratungsgespräch! Mit meiner Tochter, 10 Jahre, stimmt irgendwas nicht. Keine Ahnung, was mit ihr los ist: Sie war ja schon immer sehr sensibel, aber seit zwei-drei Wochen ist sie sooo launisch! Und total schnell gereizt und vor allem wahnsinnig egoistisch – als ob die ganze Welt sich nur um sie drehen würde! Mich nervt das total, ich hab ja schliesslich noch zwei kleine Kinder, die auch ganz schön zehren. Auch hab ich keine Ahnung, woher das kommt – es ist nichts Grosses geschehen bei uns, ausser dem normalen alltäglichen Gedönse….»
Janine, Mutter von drei Kindern
Liebe Janine,
danke für deine Nachricht. Und erstmal und mit grosser Wahrscheinlichkeit: Herzlich willkommen im Club der Teenie-Eltern.
Doch, doch, das mein ich so, auch wenn bei deiner Tochter körperlich noch kaum Anzeichen vorhanden sind. Und auch wenn deine Tochter erst 10 ist und mit „Teenies“ eigentlich Kinder im Alter zwischen thirteen und nineteen gemeint sind.
Und ja, natürlich gilt es auch bei deiner Tochter genau hinzuschauen – das können wir gerne im einem Coaching-Gespräch tun. Denn nicht immer sehen wir Eltern alles, was im Leben unserer Kinder geschieht – und manchmal ist das, was uns als Peanuts erscheint, für unsere Kinder ein grosser Stein mitten im Weg.
Aber bevor wir da tiefer buddeln, lass mich dir kurz erzählen, wie es mir und so zahlreichen Müttern und Vätern aus meinen Kursen erging, als ihr erstes Kind - von aussen unsichtbar - in die Pubertät kam und den ersten Schritt auf der Brücke zwischen Kindheit und Erwachsen-Sein machte. Nicht bei allen Kindern zeigen sich die inneren Prozesse nämlich zeitgleich mit den äusseren körperlichen Veränderungen.
Und ich glaube beobachten zu können, dass insbesondere sensible Kinder ziemlich früh mit der Explosion ihres Bewusstseins konfrontiert sind.
Wie sich das zeigt?
Nun, zum einen fangen sie an, sich zum ersten Mal von aussen und über sieben Ecken hinweg zu betrachten. Im Sinne von: Was denkt meine Kollegin über mich und mein Verhalten? Oder: Was denkt er, wie ich ihn sehe? Da wird also auf einmal ganz schön viel gefeuert im Gehirn.
Kommt dazu, dass ihnen die Natur nun unsichtbare Scheuklappen aufsetzt und sie deshalb blind & taub werden für alles, was von aussen kommt - also bspw. für elterliche Anweisungen oder Ratschläge. Und: So auf sich selbst und die eigene Sichtweise und Aussenwirklung fokussiert, begehen sie auch noch einen grundlegenden Denkfehler: Da sie selbst so beschäftigt mit sich sind, gehen sie irrtümlicher Weise davon aus, dass restlos alle Wesen um sie herum genau dasselbe tun und die Aufmerksamkeit aller anderen ausschliesslich ihnen gilt. “Imaginary Audience” nennt sich das auf Englisch.
Das ist wahnsinnig anstregend & verwirrend, doch keine Sorge: Das alles hat seinen Grund, der Egozentrismus ebenso wie die Scheuklappen und die neue Denkperspektive!
Eine der Hauptaufgaben auf dem Weg zum Erwachsensein ist nämlich herauszufinden, wer man resp. frau ist. Was gehört zu mir oder ist mir wichtig und was nicht? Für welche Werte stehe ich ein? Was macht mich aus und so einzigartig? Solche und zahlreiche weitere Fragen stehen auf einmal bewusst oder unbewusst im Vordergrund und deren Antwort lässt sich nur dann finden, wenn die Scheinwerfer nicht dauernd auf Andere, sondern primär auf sich selbst gerichtet sind.
Für mich fühlte es sich bei meiner Tochter so an, als ob die Natur husch-husch von heute auf morgen realisiert hätte: „Oh, hoppla, das Kind da braucht sein ganzes inneres Bewusstseinspotential – könnte ja sein, dass es bald Mama wird (Anmerkung der Schreibenden: Gott behüte!) und dann braucht es mehr Umsicht, mehrere Perspektiven… - Also, los: Legen wir den Hebel um!“
Das kann sich wirklich so anfühlen, als ob ein Schalter umgelegt worden wäre in unseren Kindern drin – in der Absicht, ihnen zu mehr Bewusstsein zu verhelfen.
Und mit der Konsequenz, dass unsere Kinder erstmal ziemlich gefordert und in gewissen Situationen definitiv überfordert sind mit dem, was sie da alles wahrnehmen, in sich verknüpfen und auf die Reihe bringen sollten. Dass das eine Challenge ist und sich oft nicht so toll anfühlt – und zwar für unsere Kinder ebenso wie für uns Erwachsene – muss ich wohl nicht extra hervorstreichen… Phasen von schlechter Laune oder erhöhtem Alarm sind da vorprogrammiert, ebenso wie der Verlust von gemischten Gefühlen und ihrer ausgleichenden Wirkung.
Und ja, dann kann sich das eben noch so reife 9-Jährige Kind auf einmal nicht mehr hintenanstellen, wenn die jüngeren Geschwister Krise schieben. Im Gegenteil: Es fördert mit fiesen Sprüchen oder herablassendem Verhalten gar eigenhändig solche Geschwisterkrisen - oder landet selbst wieder viel öfters im Krisenmodus, so dass wir uns mit Fug und Recht fragen, ob das Alter jetzt wirklich was mit der Reife zu tun hat?! Oder ob nicht in diesem Moment der 5-jährige kleine Bruder vielleicht gar reifer reagiert hat als die 10-Jährige?
Und ja, dann können eben noch so besonnene 9-Jährige auf einmal nicht mehr warten, bis die Mama fertig telefoniert hat oder sich im Gespräch der Eltern eine Pause ergibt, die für eine Zwischenfrage genutzt werden könnten. Nein, im Gehirn der Neu-Pubertären blinken die eigenen Bedürfnisse (Wo ist mein Buch? Steht mir mein Sonnenhut?) wieder so heftig wie bei Kleinkindern und signalisieren damit unbedingte Priorität, ungeachtet der Umstände. Anständiges oder zivilisiertes Verhalten? Davon haben Neu-Pubertäre in solchen Situationen noch nie was gehört! Und wehe dem, der was andere behauptet oder gar einfordert: Nicht selten begegnen uns Kinder dann mit einer erwachsenen und abgehobenen Attitude, die eigentlich zum Rumkullern lustig wäre, wenn es für das Kind nicht grad um Leben und Tod ginge…
Und das tut es ziemlich oft. Okay, vielleicht nicht gerade um Leben und Tod, aber diese Umstellung bringt für unsere Kinder eine immense Verletzlichkeit mit sich.
Oft kennen sie sich selbst nicht mehr und staunen über ihre eigene Impulsivität und über ihren eigenen Egoismus. Natürlich erst im Nachhinein. In der Situation drin kann all das nicht gefühlt werden. Was dazu führt, dass sie sich selbst oft nicht verstehen und sich beim kleinsten Augenbrauen-Heben unsererseits direkt als Mensch hinterfragt fühlen. Und das hebt weder ihre Laune noch unsere…
Klingt das bei dir an, liebe Janine? Ja? - Hatte ich’s mir doch gedacht! Dann schick ich hier gerne auch gleich noch die gute Nachricht mit: Das ist eine Phase und Phasen gehen vorbei (leider meist nicht ganz so schnell, wie wir uns das wünschen würden).
Mir hilft der Blick hinter die Kulissen der Entwicklung: Er öffnet meine Augen und mein Herz nicht nur für mein Kind, sondern auch für das Wunder der Schöpfung und für die faszinierende Reise, die wir Menschen bei unserer Geburt antreten.
Herzlich und vielleicht ja dennoch “auf bald” in einem Coaching-Gespräch,
PS. Falls du tiefer eintauchen möchtest in die bindungsbasierte Begleitung von (angehenden) Teenagern, kann ich dir diese beiden Kurse herzlich empfehlen:
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Foto: Janko Ferlic, unsplash