Alles Freunde, oder was?
Warum es nicht egal ist, was wir unseren Kindern vorlesen
Mit diesem Artikel möchte ich euch helfen, Bücher durch die bindungsbasierte Brille zu betrachten und damit auch bewusster auszuwählen, was wir vorlesen. Wir erinnern uns – Simona hat das im ersten Beitrag dieser Serie genauer ausgeführt: Im besten Fall helfen uns nämlich die Geschichten, die wir gemütlich vorgelesen haben, die der Bindung und dem Spiel gedient haben, auch im Alltag, indem wir uns erinnern können: Weißt du noch… an der Stelle in dem Buch…? So können z.B. Tränen eingeladen, über Unangenehmes gelacht werden oder einfach das momentane Gefühl normalisiert werden.
Manchmal brauchen wir ein Anti-Beispiel, um das gute zu finden. Als ich vor einigen Jahren meinen Patenkindern ein besonders komisches Kinderbuch vorlesen sollte, stand für mich fest, dass ich unbedingt nach Alternativen suchen musste. Die Darstellung eines „Familienurlaubs“, in dem die trotteligen Eltern weder ihr schrottiges Auto richtig packen, noch ein Zelt aufbauen, geschweige denn es sturmsicher befestigen können und auf die Rolle des Chauffeurs und Eiskäufers reduziert werden, die Kinder natürlich gleichaltrigenortiert, spornte mich an, ein anderes Bild aufzeigen zu können.
Leider sind solche Geschichten heutzutage nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel. In einem Editorial von Darlene Denis-Friske von 2010 wird genau dieser Mangel beschrieben: Den Geschichten, die heute in Büchern und Filmen erzählt werden, fehlen die Eltern – auf die ein oder andere Weise. Entweder sind sie inexistent, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, nervig, unreif oder falls sie sympathisch sind, fehlt dafür dann, dass ihre Beziehung die Emotionen des Kindes aushält oder sie ihre Alpharolle nicht ausfüllen. Oft sind die Erwachsenen, die fürsorglich waren, schon gestorben. Kurz gesagt: Es sind Geschichten einer gleichaltrigenorientierten Kultur, in denen es nur um die Belange zwischen „Freunden“ geht, während die Eltern nerven. Die Kinder erleben, teilweise ziemlich allein gelassen, lauter aufregende Dinge, die diese Geschichten „spannend“ machen, jedoch mit unserer Brille betrachtet einen schalen Beigeschmack haben. Denn eigentlich fehlen diesen Kindern die Eltern oder andere fürsorgliche Bezugspersonen, die ihnen in Schwierigkeiten beistehen. Ich lese von sehr impulsiven, unreifen, gleichaltrigenorientierten Kindern, weit über das Alter, in denen aus unserer Sicht die Reifwerdung stattfinden kann, die ständig Regeln brechen, Fehlverhalten oder sogar gefährliche Situationen vor den Erwachsenen verbergen oder unter sich ausmachen, Kinder, die viel zu früh Verantwortung für ihre Eltern (im emotionalen Sinne) und Geschwister übernehmen. Keine Frage entsteht dabei eine Art Faszination und Spannung, wie sie es jetzt schon wieder schaffen, sich aus einer scheinbar ausweglosen Sache rauszuboxen, doch letztlich tut es mir sehr oft um diese Kinder leid, die keine fürsorglichen Erwachsenen in ihrem Leben haben, die sich wirklich um sie kümmern.
Bei Büchern für kleinere Kinder kommt es manchmal ganz unscheinbar daher: Die Tiere im Wald, die befreundet sind und etwas erleben. Doch wo sind die Eltern? In der Erfahrungswelt eines kleinen Kindes sollten sie doch, wenn auch im Hintergrund, verfügbar sein und vermitteln: Entdecke die Welt, doch wenn du mich brauchst, bin ich da.
Eine verlässliche Beziehung und großzügige Einladung, die auch Schwierigkeiten und die ganz normalen Emotionen aushalten, sind es ja, was wir unseren Kindern geben wollen. Und hier spielt das Alter bzw. die Reife und Reflektionsfähigkeit unserer Kinder eine wichtige Rolle. Während ein Kind unter mindestens sieben Jahren noch kaum in der Lage ist, verschiedene Gefühle gleichzeitig zu empfinden oder eine Perspektive aufzubauen, unterstützen unsere Art der Bindungsarbeit eher die Geschichten, in denen die Eltern eben auch ähnlich wie wir dargestellt werden: Fürsorglich, im Alpha und verlässlich.
Wenn ein Kind älter wird, können wir viel eher auch mal (kritische) Fragen stellen und mit unseren Kindern über eine Geschichte ins Gespräch kommen, wie es Simona in ihrem Beitrag dargestellt hat. Dann können Bücher auch wieder nach anderen Kriterien gewählt werden.
Interessanterweise handeln die erfolgreichsten Kinder- und Jugendbücher der Welt und viele Märchen fast ausschließlich von (Halb-)Waisen (Harry Potter, Frodo aus dem Herrn der Ringe, Pippi Langstrumpf, Heidi, Oliver Twist, Tom Sawyer, Anne auf Green Gables). Die Urangst vom Tod der Eltern stellvertretend und aus zweiter Reihe in einer Geschichte zu behandeln, ist grundsätzlich sinnvoll – ab einem bestimmten Alter natürlich. Im besten Fall, wenn es schon einmal anderweitig Berührung mit dem Tod gab oder einfach das Interesse für ein bestimmtes Buch geweckt wurde. Diese Waisen erleben jedoch immer wieder Unterstützung von fürsorglichen Erwachsenen, die eine Elternrolle einnehmen, außerdem erfahren sie (wenn das überhaupt Thema ist) von den Umständen des Todes (also das große Trauma) erst im Laufe der Geschichte, wenn sie dazu bereit sind und/oder Unterstützung von fürsorglichen Erwachsenen haben. In weniger günstigen Waisengeschichten steht das Trauma des Verlusts am Anfang. Ich wage zu behaupten, dass Schriftsteller früherer Generationen da etwas mehr Intuition an den Tag gelegt haben.
Nun wissen wir schon etwas Grundlegendes, was als Kriterium bei der Auswahl eines Kinderbuches einbeziehen könnten: Spielen die Eltern bzw. fürsorgliche Erwachsene eine Rolle und wenn ja, eine hilfreiche? Es muss nicht unbedingt direkt um sie gehen, aber sie sollten im Hintergrund da sein, die Beziehung halten und wenn es etwas Wichtiges gibt, insbesondere bei Schwierigkeiten und Geheimnissen, präsent sein. Also lieber Geschichten von (Mehrgenerationen-)Familien statt von Freunden (meistens gleichaltrigenorientiert).
Gute Geschichte sind wiederum auch solche, in denen der Umgang mit Emotionen wie Tränen (wertschätzend, tröstend, gehalten), Wut (die Beziehung hält es aus, Tränen sind die Lösung), schlechter Laune, Einsamkeit, defensive Bindungsabwehr oder Depression und Tod (Bindung ist die Lösung, Tränen helfen, Spiel unterstützt) hilfreich dargestellt wird. Wichtig ist auch, dass mit Geheimnissen offen umgegangen wird und die Eltern helfen, das Problem zu lösen.
Geschichten, in denen dem Kind eine großzügige und nicht an bestimmtes Verhalten geknüpfte Einladung ausgesprochen wird, sind besonders wertvoll. Auch solche, in denen Abhängigkeit und Verletzlichkeit willkommen sind und achtsam mit ihnen umgegangen wird. Zudem solche, die erzählen wie durch Bindung Trennung überbrückt werden kann – physische oder auch solche, die aufkommt, wenn z.B. ein Geschwisterchen geboren wird. Geschichten, die den Wert von Spiel und eine Spielkultur vermitteln, sind in unserer Zeit besonders wichtig, auch solche, in denen einer angemessener Umgang mit Medien bzw. deren Gefahr aufgezeigt wird. Die Lösungen der Natur für Schwierigkeiten sind immer indirekt (tiefe Bindung über die Zeit), nicht direkt („Max geht nicht mit Fremden mit“). Geschichten zum Gegenwillen, der der Reifwerdung dient, wären auch etwas oder wie wir eine Antwort auf Alarm finden, indem wir ihm etwas entgegensetzen und Mut entsteht.
Wenn wir einmal in den bindungsbasierten Ansatz eingetaucht sind, können wir so viele Schätze in Geschichten finden. Ein intuitiver Autor findet da wahrscheinlich öfter unbewusst sehr passende Bilder und Sequenzen, die sehr stimmig sind, ohne dass es ihm bewusst ist. In den folgenden Artikeln werden wir verschiedene Bücher für kleine und größere Kinder vorstellen und betrachten, welche bindungsbasierten und Entwicklungsaspekte uns dabei auffallen.
Noch ein paar Tipps zur Suche: Beim Neufeld-Institut gibt es eine umfangreiche Liste mit Kinderbüchern, von denen wir auch einige hier in dieser Blog-Serie vorstellen werden. Leider sind einige nicht auf Deutsch übersetzt worden und es gibt sie nur auf Englisch oder Französisch. Bedauerlicherweise gibt es auch viele von diesen Büchern nur noch antiquarisch. Wenn ein engagierter Verleger/Verlegerin dies liest, freue ich mich über den Kontakt, denn einige lohnen sich bestimmt, sie wieder aufzulegen oder überhaupt zu übersetzen. Vor allem bei Bilderbüchern sollte ja nicht nur die Geschichte stimmen, sondern auch die Bilder gefallen. Ob dies zutrifft, kannst du feststellen, indem du dir das Buch auf YouTube vorlesen lässt.
Bild: Liana Mikah (Unsplash)