Es war einmal…

Ein Plädoyer für familiäre Vorlesekulturen – Oder: Warum Vorlesen nicht nur die Sprach-, Lese- und Schreibkompetenz von Kindern fördert, sondern noch viel Grundlegenderes

Dass Vorlesen die Sprach-, Lese- und Schreibkompetenz von Kindern fördert – und das bereits im Vorschulalter – ist wohl hinlänglich bekannt und durch verschiedene Studien gut belegt. Ich bin ausserdem überzeugt, dass meine Konzentrationsfähigkeit massgeblich von meinem Grossvater geprägt wurde, der meinem Bruder und mir stundenlang Geschichten vorlas oder mit uns einen Band seiner beindruckenden WISSEN-Sammlung durchging.

Aus bindungsbasierter Sicht gibt es aber noch weitere mindestens so gute Gründe für Vorlesekulturen – und diesen wollen wir hier auf die Spur gehen, aufgeschlüsselt nach unsere Hauptthemen Bindung, Reifwerdung, Emotionen und Spiel. Dieses Plädoyer für familiäre Vorlesekulturen macht auch gleich den Auftakt für unsere neue Blog-Serie «Kinderbücher durch die bindungsbasierte Brille».

Vorlesen & Bindung (& Ruhe)

Gemeinsam unter der gleichen Bettdecke, eingekuschelt auf dem Sofa oder schlicht auf dem Schoss einer erwachsenen Person: Der Faktor Beziehung oder eben Bindung geht per se Hand in Hand mit Vorlesen, und zwar über mehrere Bindungswurzeln hinweg! Wir sind über die Sinne verbunden, das heisst über Körperkontakt oder die Stimme, wir teilen das Erlebnis der gleichen Geschichte, wir sitzen zusammen im gleichen Boot (resp. Bett oder Sofa) und wir zeigen Wertschätzung, in dem wir uns die Zeit nehmen zum Vorlesen. Und natürlich können wir den Faktor Bindung auch noch etwas stärker hervor streichen, indem wir die Bindungsstufen «bespielen», bspw. so: «Das ist sooo kuschelig, wenn du auf meinem Schoss sitzt» oder «Du und du und ich, wir drei gemeinsam unter der gleichen Decke!» oder «Wollen wir wieder gemeinsam eintauchen in den Mattiswald und schauen, was Ronja Räubertochter heute erlebt?» 

Mit dem Vorlesen geht aber noch ein weiterer wichtiger Bindungs-Aspekt einher: Da Vorlesen per se ein fürsorglicher Akt ist, ist es auch prädestiniert dafür, die «richtige» Art von Bindung mit unseren Kindern zu leben – also eine Bindung, in der wir Eltern im Lead und in der anbietenden Rolle, das heisst im «Alpha» sind.

Und damit ist Vorlesen eine wunderbare Art und Weise, um den Bindungshunger unserer Kinder zu stillen, so dass sie innerlich zur Ruhe kommen können. Und das wiederum ist der Boden, auf dem Reifwerdung stattfinden kann – oder wie Gordon Neufeld es so treffend formuliert: «Jede Entwicklung geht von einem inneren Ort der Ruhe aus.»

Fazit: Vorlesen fördert und stärkt die Bindung und bietet uns eine wunderbare Möglichkeit, um für unsere Kinder im «Alpha» zu sein und ihren Bindungshunger zu stillen.

Vorlesen & Emotionen (& weiche Herzen)

Vorlesen hilft uns auch, unsere Kinder darin zu unterstützen, eine Beziehung zu ihren Emotionen aufzubauen und eine Sprache des Herzens zu erlernen. Jede, aber wirklich jede Geschichte enthält Emotionen (meist gar im Kern!) und somit die Möglichkeit, einzutauchen und die Weiten und Tiefen der Gefühlswelt zu erforschen: «Wie denkst du, fühlt sich Michel, wenn er in den Schuppen flüchten muss? Wie sein Vater?» - «Das Häschen hat seine Mama aus den Augen verloren – wie es ihm jetzt wohl geht? Und der Mama?» - «Warum denkst du, tobt Pingu hier so rum?» - «Ob Ronja ihre Eltern in der Bärenhöhle vermisst?»

Bücher bieten die perfekte Möglichkeit, um unseren Kindern eine Sprache des Herzens zu vermitteln, in der wir Emotionen und Gefühle nicht nur benennen, sondern sie auch in ihrer treibenden Rolle wahrnehmen.

Denn auch in Geschichten gilt: Spannend und lehrreich ist vor allem der Blick hinter die Kulissen des Verhaltens resp. die Frage, was unser Verhalten antreibt – und hier landen wir unweigerlich bei Emotionen.

Vorlesen hilft aber nicht nur beim Benennen und Wahrnehmen von Emotionen – Vorlesen bietet auch eine wunderbare Möglichkeit, um die Herzen unserer Kinder weich zu halten (oder aufzuweichen, je nachdem).

In Geschichten können wir in schwierige Situationen eintauchen, die im realen Leben viel zu verletzlich wären: Die Konfrontation mit Abschied oder Tod, Ablehnung oder Mobbing, Fehlschlägen oder Grenzüberschreitungen, Verlorengehen oder Sich-Verirren – all dies ist im realen Leben oft viel zu gross und zu verletzlich, um es zu fühlen, auch wenn es nur in der Vorstellung stattfindet.

Vorlesegeschichten aber drehen sich oft um genau diese Erfahrungen von Trennung und bieten uns die Möglichkeit, mit unseren Kindern diese verletzlichen Felder zu erforschen – und zwar nicht nur im sicheren Rahmen resp. auf dem Schoss einer tragenden Bindung, sondern auch geschützt in der Blase des Spiels, denn die Geschichte ist ja nicht real und sie findet auch gar nicht jetzt statt, sondern steht «nur» auf den Seiten eines Buches geschrieben.

Fazit: Durch das Vorlesen können wir unseren Kindern eine Sprache des Herzens vermitteln und sie darin unterstützen, ihre eigenen Emotionen wahrzunehmen und zu fühlen – gerade auch die sanfte und verletzlichen.

 Vorlesen & Reifwerden

Was für uns «reif» heisst, haben wir schon an verschiedenen Orten beschrieben und besprochen. Und wenn wir uns einmal darauf achten, greifen die meisten Geschichten einen oder mehrere der Reifwerdungs-Prozesse auf und bieten uns Steilpässe, um mit unseren Kinder die Sache mit der Reifwerdung zu thematisieren – je nach Bedarf ganz direkt («Wie machst du das in solchen Situationen?») oder mit einem spielerischen Schritt Abstand («Hätte Michels Vater auch anders reagieren können – und was hätte es dafür gebraucht?»). Hier ein paar Beispiele:

  • Nils Holgerson ist auf seiner Reise mit so vielen Vergeblichkeiten (adaptiver Prozess) konfrontiert – insbesondere zum Schluss der Geschichte, als er zwar endlich wieder ein Mensch ist, aber die Sprache der Tiere nicht mehr sprechen kann. Wie reagiert er darauf? Wie reagiert mein Kind, wenn es mit Dingen konfrontiert sind, die nicht funktionieren wie gewünscht? Wie ich selbst…?

  • Oder der Geissenpeter, der Klaras Rollstuhl den Berg hinunter krachen lässt: Warum war es ihm nicht möglich, gleichzeitig zu seiner Frustration auch Heidis Freude an Klaras Besuch wahrzunehmen? Oder Fürsorglichkeit für die kranke Klara? Wie machen wir das in solchen Situationen – wo spüren wir beide Impulse (= integrativer Prozess) in uns? Was hindert uns daran? Welchen machen wir meistens klein?

  • Oder dann all die Geschichten von Kindern, die auf ihr Inneres hören und aus sich selbst schöpfen (= emergenter Prozess), auf welche Art und mit welcher Lautstärke auch immer, sei es Momo oder Pippi oder Bastian oder der kleine Flohling: Wie machen die das? Wie fühlt sich das für sie an? Und natürlich auch: Wo machst du das? Und wo ich?

Fazit: Vorlesen bietet uns die Möglichkeit, mit unseren Kinder die Entwicklung von menschlicher Reife zu thematisieren und aufzuzeigen, dass hinter schwierigem Verhalten oftmals Unreife steckt, und zwar sowohl bei den Kleinen als auch bei den Grossen.

 

Vorlesen & Spiel

Abgesehen davon, dass Vorlesen per se «Spiel» ist und dass Vorlesen wie oben erwähnt, die spielerische Blase bietet, um uns an schwierige oder verletzliche Emotionen heranzutasten oder unmöglich scheinende Reifwerdungsprozesse zu thematisieren, rollt uns Vorlesen auch den roten Teppich aus für mehr Spiel in unseren Familien- oder Lernkulturen:

Die Geschichten, in die wir mit unseren Kinder eintauchen, bieten uns eine Vielzahl an Situationen und Rollen, die uns helfen können, schwierige Situationen mit einem «Tick Spiel» zu entschärfen oder dank der Kraft des Spiels überhaupt anzugehen.

Vor allem wenn Figuren und Geschichten uns über mehrere Wochen begleiten, tauchen immer wieder Möglichkeiten auf:

  • Fluchen wie Mattis in seiner Räuberhöhle, wenn uns was frustriert («Potz Pestilzenz!» -Oder: «Scher dich zum Donnerdrummel» - das geht nicht ohne Augenzwinkern).

  • Sich hinterm Ohr kratzen wie Lukas, der Lokomotivführer, wenn etwas unklar oder erstaunlich ist (bspw. weil das Zimmer trotz mehrmaliger Aufforderung noch nicht aufgeräumt ist).

  • Oder ein Beispiel aus meinem Familienalltag: Wenn es mir während dem Essen zu laut und chaotisch wird, verwandle ich mich kurzerhand in Fräulein Rottenmeier (gerader Rücken, hochgezogene Augenbrauen, Kind streng anschauen): «Adelheid! Setz dich gerade hin! Im Hause Sesemann ziemt sich so ein Verhalten nicht! Wir sprechen zu Tische nicht mit erhobener Stimme und schon gar nicht mit vollem Munde!» -

Die so spielerisch vermittelten Messages kommen immer wunderbar an – und zwar ohne dass die Stimmung kaputt oder es zu Machtkämpfen kommt!

Fazit: Vorlesen bietet uns die Blase des Spiels, um die Felder der Emotionen/Gefühle und der Reife/Unreife anzusprechen und rollt uns den roten Teppich aus, um mehr Spiel in unsere Familien- und Lernkulturen zu bringen.

Und wenn sie nicht gestorben sind…

Und wem all diese Argumente nicht reichen – oder wer findet, es braucht sie allesamt nicht: Eigentlich reicht auch ein Blick in Kinderaugen, wenn wir sie ins Vorlesen einladen, oder ein Blick in Kindergesichter, während sie der Geschichte lauschen.

Meine Kinder haben mir auf die Frage, warum sie es «gern hend», wenn Mama oder Papa vorlesen Folgendes geantwortet:

  • «weil es so kuschelig ist und es dann so gut nachdenkt in meinem Köpfchen»

  • «weil ich dann so gut abtauchen und mich entspannen kann»

  • «weil ich dann einfach auf deinen Schoss sitzen kann und in mir etwas läuft».

 

 

PS. Wenn du über die nächsten Beiträge in unserer Serie «Kinderbücher durch die bindungsbasierte Brille» informiert werden möchtest, folge uns…

 
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Erinnerungen - "Ach diese Schule!"