Bindungshunger als Falle

Was Mobbing mit Bindung zu tun hat (Folge 2/3)

Wer kennt sie nicht: Zeitgenossen, die hungrig und so langsam unterzuckert alle Hebel in Bewegung setzen, um etwas Nährendes in den Magen zu bekommen, und deren Tunnelblick alles, was nicht nach Kalorien aussieht oder sich ihnen auf ihrer «Jagd» in den Weg stellen könnte, ausblenden oder zumindest als Zumutung taxieren? Ein solcher Heisshunger kann manchmal sogar die besten Manieren übertrumpfen - und genauso ist es auch beim unserem Bindungshunger - der übertrumpft auch alles.

Aber von vorne: In der ersten Folge habe ich Bindung als Schutzschild beschrieben, der Angela unmittelbar in der Mobbing-Erfahrung vor unerträglicher Verletzung geschützt hat, und ich habe dargelegt, wie wichtig der sichere (Bindungs-)Raum ist, um die erlebte Verletzung integrieren resp. fühlen zu können, so dass kein «Schaden» oder Trauma bleibt.

Eine tiefe und sichere Bindung zu einer erwachsenen Bezugsperson schützt Kinder und Jugendliche jedoch noch auf eine ganz andere Art und Weise, aber hierfür muss ich erst etwas ausholen und die Begriffe Bindung und Bindungshunger erläutern.

Und noch etwas muss vorneweg gesagt sein: Natürlich ist Mobbing nicht einfach nur eine Falle, der man aus dem Weg gehen kann oder nicht - dieses Bild möchte ich auf keinen Fall vermitteln! Mobbing ist viel komplexer als das. Und doch finde ich das Bild der Falle oder des Mobbing-Sumpfes passend, um eine nicht unwesentliche Dynamik zu beschreiben.


Bindung – unser grundlegendstes Bedürfnis

Bindung ist für uns viel mehr als Baby-Bonding - das haben wir bspw. hier beschrieben und hier in einem Podcast besprochen.

Bindung ist unser grundlegendstes Bedürfnis, ein innerer Trieb, mit dem wir nichts weniger als unser Überleben sichern. Und mit «Bindung» meinen wir unser aller Streben nach Nähe und Kontakt resp. die Beziehung, die entsteht, wenn das Streben erfolgreich war.

Ein Baby tut das noch auf der simpelsten Stufe – via die Sinne. Unter günstigen Bedingungen entwickeln wir aber weitere Möglichkeiten, um unseren Hunger nach Nähe und Kontakt zu stillen: Wir fühlen uns anderen nahe, wenn wir gleich sind, wenn wir zur selben Gruppen gehören und loyal sind oder Loyalität erfahren, wenn wir wertgeschätzt, gemocht oder geliebt werden oder - quasi als Krönung - wenn wir uns unserem Gegenüber mit allem, was uns ausmacht, offenbaren können und wir wirklich gesehen und immer noch angenommen und geliebt werden.  

Bindung funktioniert wie Hunger

Dieses für uns so essentielle Bedürfnis nach Nähe und Kontakt funktioniert ganz ähnlich wie unser physischer Hunger nach Essen: Ihn können wir nur für eine gewisse Zeit stillen (wobei ein Teller Spaghetti Bolognese länger anhält als eine Tafel Schoggi), dann klopft er wieder an – und wenn wir ihn nicht stillen, wird er zum Heisshunger. Bei Bindung ist das genau so:

Unser Bedürfnis nach Nähe und Kontakt kann nur für eine gewisse Zeit gestillt werden, denn meldet es sich wieder. Und wenn unser Bindungshunger nicht gesättigt wird, übertrumpft er alles – dann hungern wir danach, gleich zu sein wie die andern, dazuzugehören, wertgeschätzt, geliebt und/oder wirklich gesehen zu werden.

Und ja, unser Bedürfnis nach Bindung übertrumpft sogar unseren Hunger nach Essen – oder wer verspürt kurz vor dem Zmittag schon Hunger, wenn er sich Sorgen um sein Kind macht, das einfach nicht vom Kindergarten nach Hause kommt?  

Aber was hat das alles mit Mobbing zu tun? – Allerhand, denn wenn ein Kind oder ein/e Jugendliche*r «bindungshungrig» aus dem Haus geht, sucht er oder sie Nähe und Kontakt bei anderen. In der Schule sind das typischerweise die Gleichaltrigen – und genau da kann die Mobbing-Falle zuschnappen.

Bindungssatt heisst…

Nehmen wir zur Verdeutlichung die zwei idealtypischen Teenie-Mädchen Angelina und Simonetta, die zusammen in eine Klasse gehen und beide Mobbing erfahren.

Angelina konnte eine tiefe Bindung zu ihren Eltern entwickeln, sie fühlt sich von Herzen geliebt und vor allem kann sie auch alles teilen und zeigen, was in ihrem Herzen drin ist – auch all das Verwirrende und Alarmierende, das die Pubertät so mit sich bringt. Sie geht am Morgen also «bindungssatt» aus dem Haus, denn ihren Bindungshunger kann sie zuhause stillen – das Angebot an «Bindungs-Nahrung» ist hier uneingeschränkt und bedingungslos vorhanden, und zwar im Sinne von Spaghetti Bolo und nicht von Schoggi.

Bindungshungrig heisst..

Bei Simonetta sieht das ganz anders aus: Ihr Bedürfnis nach Nähe und Kontakt bleibt zuhause ungesättigt, denn sie fühlt sich weder geliebt, geschweige denn wirklich gesehen. Sie hat seit Kindsbeinen das Gefühl, dass ihr Innenleben zu viel ist für ihre Eltern (seit der Pubertät ist das noch viel mehr der Fall) und Wertschätzung bekommt sie nur für ihre Leistungen in Schule oder Sport oder wenn sie zur Abwechslung mal ihr Zimmer aufräumt. Simonetta geht also «bindungshungrig» aus dem Haus und das bedeutet, dass ihr Streben nach Nähe und Kontakt den ganzen Tag dominieren wird:

Simonettas Fühler sind nach aussen gerichtet und ihre gesamte Aufmerksamkeit fokussiert sich auf Fragen wie: «Haben meine Klassenkameradinnen gesehen, dass ich gestern Abend ein Foto meiner neuen Frisur gepostet habe – und was sagen sie dazu?» - «Was denken die andern über das neue NMG-Thema und wie verhalte ich mich möglichst gleich?» - «Gehöre ich heute noch zu unserer Mädchen-Gruppe dazu oder hat sich gestern noch was ereignet, was ich nicht mitbekommen habe?» - «Und, warum hat mich Tatjana grad so komisch angeschaut?»

Das klingt wahnsinnig anstrengend und aus eigener Erfahrung weiss ich: Das ist es auch. Dass da wenig Platz fürs Lernen bleibt, versteht sich von selbst (das Aufmerksamkeits-System von Simonetta läuft ja bereits auf Hochtouren) und dass hier ein Bindungsangebot eine*r Lehrer*in wahnsinnig wichtig wäre, liegt auch auf der Hand, aber das sind andere Themen, hier geht es ja um Mobbing.


Bindungshunger als Mobbing-Falle

Um ihren Bindungshunger resp. um ihren «Binundgs-Heisshunger» kommt Simonetta nicht herum - er bestimmt ihren Alltag genauso wie das unser physicher Hunger macht, wenn er nicht befriedigt wird.

Simonetta ist für die Befriedigung ihres grundlegendsten Bedürfnisses (Nähe und Kontakt) also auf Menschen ausserhalb ihrer Familie oder ihres Bindungsdorfes angewiesen – und noch schlimmer: auf Menschen, die noch ebenso unreif sind wie sie. - Eine andere Möglichkeit gibt es in ihrem Leben nicht: In die Schule muss sie und ihre Lehrerin versteht wenig davon wie Beziehung in Lernsettings gelingt*.

Wenn Simonetta ihren Hunger stillen will, ist sie also auf Gedeih und Verderben auf ihre Klassenkamerad*innen angewiesen: Auch wenn diese sie schlecht behandeln, bleiben halt eben doch nur sie! - Und weil sie so verzweifelt versucht, gleich zu sein wie die anderen, in irgendeiner Gruppe dazuzugehören, bei den angesagten Girls anzukommen und etwas Wertschätzung zu erhalten, stellt sie sich manchmal komisch an und hat auch schon ihre eigenen Grenzen überschritten, um der Rädelsführerin ihre Loyalität zu beweisen.

Simonetta hat keine Möglichkeit, die fiesen Kommentare und das Schikanieren einfach an sich vorbeiziehen zu lassen, so wie Angelina aus ihrer Klasse das macht: Simonetta hört jedes Mal hin, nimmt jeden Kommentar, jeden Blick und jedes Zeichen ernst und persönlich, sie reagiert darauf, lässt sich auf Diskussionen ein, fordert Richtigstellung oder Nachsicht ein und verstrickt sich so nur tiefer im «Mobbing-Sumpf».

Bei Angelina ist das anders: Auch sie leidet unter den doofen Kommentaren und dem Piesacken der anderen, doch ihr Drang danach, gleich zu sein, dazuzugehören, wertgeschätzt, gemocht oder gesehen zu werden, ist viel weniger stark. Die Bindungsnahrung, die sie zuhause erhält, nährt sie für die paar Stunden, die sie in der Schule verbringt – ähnlich wie das eben eine mit Liebe zubereitete Portion Spaghetti Bolognese tut. Deshalb gelingt es ihr öfters, auf «Göschenen-Airolo» zu schalten oder den Mobberinnen aus dem Weg zu gehen**.

Für Kinder oder Jugendliche wie Simonetta aber gibt es – ohne die Hilfe der Erwachsenen – keinen Weg aus dieser Falle. Der Käse in der Falle ist zu verlockend, ihr Hunger nach Nähe und Kontakt zu gross. Sie können nicht widerstehen, auch wenn sie eigentlich wissen, dass alles nur schlimmer wird, und deshalb schnappt die Falle wieder und wieder zu.


Deshalb - aber nicht nur deshalb - ist es so unglaublich wichtig, dass unsere Kinder und Jugendlichen nicht nur mit einem stärkenden Frühstück, sondern auch bindungssatt in die Schule gehen!

Wie wir eine tiefe Bindung zu unseren Kinder und Jugendlichen aufbauen, nähren und gerade auch in schwierigen Situationen bewahren, darüber sprechen wir in unseren Podcasts und aktuell auch im Kurs «Kinder unter 7 verstehen».

Und mehr zum Thema Mobbing erfährst du in unserem Mini-Kurs «Mobbing - ein Blick hinter die Kulissen»

… oder in der nächsten Blog-Folge: Dann gehen wir der Frage nach, wie Kinder zu Mobbern werden und schauen uns ein grosses Mosaiksteinchen in einer komplexen Antwort an.

 

* Mehr dazu in unserer 4-teiligen Podcast-Serie «Wie Beziehung in Lernsettings gelingt» oder im Kurs «Lernen begleiten».

** Um es nochmals explizit zu machen: Ich beschreibe hier einfach und überspitzt eine Dynamik innerhalb der komplexen Mobbing-Dynamiken. Nur weil ein Kind wie Angelina tief und nährend an seine Eltern gebunden ist, heisst das nicht, dass es nicht auch sehr unter Mobbing leiden kann. Gerade tiefgebundene Kinder haben oft «weiche Herzen» und können ihre Emotionen und damit all die Verletzungen fühlen, was für das Kind und auch für die Eltern sehr anstrengend und herausfordernd sein kann - aber unter dem Strich natürlich sehr bereichernd und nährend!

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