Kein Ausweg in Sicht
In den letzten Blogs haben wir den Frustrations-Kreisel von Gordon Neufeld betrachtet. Heute wollen wir schauen, was es bedeutet, wenn alle Ausgänge des Kreisels versperrt sind.
Anna ist 11 Jahre alt und sie erfuhr vor Kurzem, für sie aus heiterem Himmel, dass ihre Eltern sich trennen. Sie wohnt nun mit ihrer Mama in einer neuen Wohnung und vermisst ihren Papa sehr. Mama geht es schlecht. Sie ist meistens mies drauf und wegen dem Umzug hat Anna noch keine Freunde.
Die Situation lässt sich nicht verändern. Die Trennung ist endgültig, das haben die Eltern sofort klargestellt. Anna ist unendlich traurig, doch es gibt keinen Ort, wo sie weinen könnte und warmen Trost empfangen würde. Manchmal wird Anna richtig wütend, auf die Situation und auch auf Mama, sie schreit dann und sagt böse Dinge. Doch kürzlich brach die Mama in so einer Situation in Tränen aus und sagte Dinge wie «ich kann dich nicht mehr ertragen, wenn du dich so benimmst» «du machst mich ganz fertig» oder «Ich habe keine Kraft mehr». Seither weiss Anna, dass sie ihrer Wut keinen freien Lauf mehr lassen darf.
Schon seit Anna von der Trennung ihrer Eltern erfahren hat, fragt sie sich, ob sie wohl daran schuld sei. Hätte sie doch nur bessere Schulnoten gehabt, oder ihr Zimmer immer aufgeräumt. Vielleicht wären Mama und Papa dann noch glücklich zusammen. Aus diesen Gedanken wurde nun eine Überzeugung und es kamen neue Gedanken hinzu: «Ich bin selbst schuld, dass es so ist wie es ist», «mich kann man zu nichts gebrauchen» oder «ich bin eh wertlos…»
Einige Monate später geht es Anna richtig schlecht. Sie spürt oft einen riesigen Druck und eine unaushaltbare Spannung in sich. Irgendetwas muss sie tun, um nicht zu explodieren… Dies ist der Moment, in dem Anna sich zum ersten Mal selbst verletzt. Sie spürt sofort, wie die Spannung sinkt und sie sich besser fühlt…
Soweit die etwas plakative Story von Anna, die uns zeigt, was passieren kann, wenn alle 3 Auswege des Frustrations-Kreisels verschlossen sind: Annas Frustration über die Situation ist riesig, Veränderung unmöglich. Leider kann sie nicht trauern, weil da kein Ort ist, wo sie sich geborgen fühlt. Mit ihren Aussagen schliesst die Mutter auch die Ausfahrt der Aggression und so richtet sich die ganze Aggression nach Innen und es kommt zur Selbstverletzung.
Der Rückschluss, dass man in Annas Fall einfach einen der 3 Auswege öffnen müsste und es Anna dann besser gehen würde, wäre logisch. Wahrscheinlich würde es Anna auch kurzzeitig helfen, aber längerfristig bräuchte sie sicher Hilfe, damit die unverarbeitete Verletzung heilen kann.
In der Situation hingegen, hätte ein Ort der Geborgenheit und des warmen Trostes, sowie Raum für alle Emotionen sicher viel geholfen. Dieser Ort müssen und können nicht immer die Eltern sein. Manchmal sind es Grosseltern oder andere fürsorgliche Erwachsene Personen, die die Not eines Kindes wahrnehmen und diesen Raum bieten.
Mehr über seelische Verletzungen erfährst du im Kurs «Ängste und Trauma verstehen» von Angela Indermaur.