Connect before you direct
Bindungsbasiert ins neue Schuljahr - eine vierteilige Serie für Lehrerinnen, Lernbegleiter, Kindergärtner und Spielgruppen-Leiterinnen (4/4)
Es gibt Zitate, die lassen sich nicht so rund ins Deutsche übersetzen und «Connect before you direct» – oder in Gordon Neufeld’s Sprachgebrauch «Collect before you direct» - ist eines davon. Google translate macht ein «verbinden, bevor Sie befehlen» daraus resp. ein «sammeln, bevor Sie befehlen» und wir brauchen in unseren Kursen «Bindung vor Weisung».
Egal welche Übersetzung wir wählen, den Inhalt kennen wir Erwachsenen recht gut - mit anderen Erwachsenen machen wir’s nämlich so ziemlich immer. Aber vor vorne:
Die Augen, ein Lächeln und ein Nicken sammeln
«Collect before you direct» ist eines meiner Lieblingszitate von Gordon Neufeld und um zu illustrieren, was wir mit «Sammeln» meinen, bringe ich oft unseren Nachbarn Chäschpu ins Spiel resp. ins Bei-Spiel ;o). Und das geht so:
Nehmen wir mal an, Chäschpu mäht an einem heissen Tag draussen seinen Rasen und ich möchte ihn gerne fragen, ob er, der Vollblutmechaniker, ein Werkzeug für unseren Rasenmäher hat. Ich gehe also zu seiner Hecke hin, luge darüber hinweg und rufe «Tschau Chäschpu!». Natürlich könnte ich prima gleich ein «… Du hast doch so ein tolles 27-Kant-Drehmoment-Werkzeug…» anhängen, und doch warte ich erst darauf, dass er mich ansieht - ich «sammle also seine Augen». Ohne Blickkontakt würde ich nie und nimmer weiter fragen.
Doch der Blickkontakt alleine reicht noch nicht dafür aus, dass ich meine Bitte anbringe: Nach den Augen sammle ich auch noch ein Lächeln und ein Nicken, bspw. mit einem «Henne heiss wider, und bi dem Räge wachst de Rase wie frisch düngt, nöd wohr?». Erst wenn er dann etwas im Sinne von «Tschou Simona, ja, das wachst wie wild das Jahr» erwidert und dazu lächelt und nickt und signalisiert, dass er auch in Beziehung gehen will (indem er mein Thema mit dem Regen und der Hitze aufgenommen hat), bringe ich meine Frage an.
In der Kurzfassung und nochmals durchdekliniert: Ich habe Chäschpus Augen, sein Lächeln und sein Nicken gesammelt und ihm dann etwas «von mir gegeben», das er festhalten konnte und mit dem er mir signalisierte, dass er bereit ist, in Beziehung zu gehen.
Alles andere ist eigentlich schlicht unhöflich
Wie gesagt, wenn wir mit Erwachsenen zu tun haben, machen wir das ganz intuitiv – alles andere wäre unhöflich, abweisend oder zumindest tollpatschig. Mit Kindern und Jugendlichen hingegen sind wir - Eltern wie Lehrpersonen - oft genau das, und der Frage nachzugehen, warum das so ist, würde wohl noch zwei Blog-Einträge mehr füllen.
Was ich sagen will:
Mit Kindern und Jugendlichen starten wir oft «kalt» - und staunen dann, dass auf den Kaltstart keine freundliche Reaktion folgt, geschweige denn eine Erfüllung unserer Bitte oder ein Ausführen unseres «Befehls».
Deshalb ist es so wichtig, dass wir zuerst die Beziehung aktivieren oder «aufwärmen», um beim Kaltstart zu bleiben, und zwar vonHeezen und authentisch – Kinder realisieren schnell, ob etwas ehrlich gemeint ist oder nur einen Zweck verfolgt!
Sammeln ist also eine Einladung in die Beziehung und somit im Kontext von Spielgruppe/Schule auch immer eine Einladung in die Abhängigkeit - und das geht so:
Sammeln: Bitte grundsätzlich…
Das «Sammeln» oder Verbindung herstellen sollte ganz grundsätzlich geschehen, also zu Beginn des Schuljahres, und auch situativ, also in jeder neuen Situation. Was heisst das?
Wer im August eine neue Klasse oder Spielgruppe übernimmt, tut gut daran, jeden einzelnen Schüler und jede einzelne Schülerin zu sammeln. Bei manchen geht das bereits am ersten Montagvormittag ganz einfach: Der Augenkontakt, das Lächeln und das Nicken lassen sich problemlos «sammeln» und wenn wir dem Kind etwas von uns zum Festhalten geben (bspw. etwas, das bei ihm/ihr und mir gleich ist), dann steigt es in die Beziehung ein («Ja, ich bin auch etwas nervös und vorfreudig»).
Bei scheuen Kindern kann das mehrere Tage oder Wochen dauern - doch gerade hier ist es so wichtig, dass wir dranbleiben und das «Sammeln» nicht aufgeben! Und gleichzeitig lohnt es sich hier auch, die Klasse als ein «Wesen» zu sehen und auch immer wieder die Klasse als solches zu sammeln.
Aus unserer Sicht sollte in den ersten Schulwochen ganz - ich wiederhole: ganz! - viel Zeit dem Beziehungsaufbau resp. dem Sammeln gewidmet und der Stoffplan in den Hintergrund gerückt werden. Die «Investition» lohnt sich und zahlt sich früher oder später garantiert aus!
… und situativ
Das «Sammeln» verliert seine Wichtigkeit und seine Kraft nach dem gelungenen Schulstart aber nicht, im Gegenteil: Das Sammel-Spiel fängt jeden Morgen von neuem an! Während Basisstufen-Lehrkräfte hier meist noch jedes Kind einzeln und mit Name begrüssen (mit der Hand oder Corona-bedingt mit dem Fuss), habe ich es auf Stufe Sek II oft erlebt, dass die Jugendlichen ins Schulzimmer kamen und die Lehrperson tief in ihren PC versunken am Arbeiten war – eine vergebene Beziehungs-Chance.
Aber nicht nur jeden Morgen ist das Sammeln so wichtig: Auch jedes Mal, wenn wir ein Kind ansprechen und es vielleicht in seinem Spiel unterbrechen, weil jetzt Zeit zum Aufräumen oder für den Gruppenkreis ist, sollten wir es zuerst «Sammeln». Das gilt besonders bei kleinen Kindern, die hoffentlich noch sehr vertieft und mit Haut und Haaren in ihrem Spiel drin sind, und natürlich insbesondere auch dann, wenn wir unsere Kinder auf etwas «Schwieriges» hinweisen wollen (einen Konflikt besprechen, auf ein Fehlverhalten hinweisen etc.).
Sammeln ist also viel mehr als einfach die Aufmerksamkeit einfordern – und ich wünsche allen Spielgruppen-Leiter*innen und Basisstufen-Lehrkräften viel Spass bei der Selbstbeobachtung:
Ich habe mich in den ersten Jahren als Lehrerin immer und immer wieder dabei ertappt, dass ich genau das machte: Kraft meiner Rolle Aufmerksamkeit oder Gehorsam einfordern. Irgendwie fühlte sich das immer falsch an, aber eben auch alternativlos – bis ich die Kraft der Beziehung entdeckte.
In dem Sinne wünsche ich allen, die «bindungsbasiert» ins neue Spielgruppen-, Kindergarten- oder Schuljahr starten, von Herzen viel Erfüllung – denn genau das bringt unser Job mit sich, wenn Bindungs-Kraft im Spiel ist.
PS. Mehr zum Thema «Sammeln» und wie wir das im schulischen Kontext genau machen, erläutern Michael Miedaner und ich auch in der Podcast-Folge #21