Das lange 4. Trimester nach der Geburt

Oder: Warum wir nicht über die Unreife von kleinen Kindern stolpern sollten

Kleine Kinder – und überhaupt: Kinder - sind von Natur aus unreif, das ist eigentlich so logisch und so weitbekannt, dass es nicht der Rede wert sein sollte. Und in vielerlei Hinsicht bauen wir das auch ganz selbstverständlich und zum Teil gesetzlich verankert in unseren Alltag ein – oder wem würde es in den Sinn kommen, ein kleines Kind ans Steuer eines Autos zu lassen? Von ihm zu verlangen, dass es Einkäufe alleine erledigt und das Rückgeld an der Kasse auch noch prüft? Es selbständig neue Skihosen kaufen zu lassen? Alleine mit dem Zug zu den Grosseltern zu fahren oder eigenhändig Spaghetti zu kochen?

In all diesen und unzähligen weiteren Aspekten ist uns völlig klar, dass (kleine) Kinder das noch nicht können und unsere Unterstützung, Hilfe oder Anleitung brauchen. Doch leider gibt es auch eine ordentliche Anzahl weiterer Aspekte, bei denen uns dieses Wissen abhandengekommen zu sein scheint.

Oft erwarten wir von unseren kleinen Kindern, dass sie sich wie Erwachsene benehmen – und erst noch wie emotional ausbalancierte und in sich zentrierte Erwachsene!

Oder wer von uns Grossen teilt etwas Liebgewonnenes schon gerne mit anderen, die uns noch nicht mal besonders nahestehen, sondern vielleicht einfach im gleichen Raum sind? Von kleinen Kindern erwarten wir oft genau das: Das Spielzeug mit anderen teilen, auch wenn das Gegenüber (zumindest im Augenblick) nicht zu den besten Freunden zählt und sich schwer abschätzen lässt, ob er/sie auch so sorgsam damit umgeht wie man selbst und es dann auch ohne viel Federlesen wieder zurückgibt?

Oder wer von uns hat Lust auf Smalltalk oder ein Mittagessen mit allen Kolleg*innen aus dem Grossraum-Büro oder der Abteilung – und wer von uns geht solchen Situationen lieber gleich strategisch aus dem Weg? Kleine Kinder werden im Kindergarten aber oft dazu angehalten, mit allen «Gspänli» zu spielen und niemanden auszuschliessen – die Möglichkeit, diesem Zwang unauffällig aus dem Weg zu gehen, haben sie nicht. Und oben drauf sollten sie das alles auch noch auf eine soziale erwünschte und nicht verletzende Art und Weise mitteilen (Stichwort Konfliktfähigkeit).

Oftmals ein blinder Fleck - die natürliche Unreife von Kindern

Mir scheint, dass wir in all diesen Aspekte einen blinden Fleck haben, der eher grösser denn kleiner zu werden droht: Wenn es nämlich um Emotionen oder soziales Verhalten geht, scheinen wir eher davon gesteuert zu sein, was für uns Erwachsene in unserer von Erwachsenen und von der Wirtschaft strukturierten und vorgegeben Welt gerade «gäbig» ist, statt unsere (kleinen) Kinder wirklich zu sehen.

Denn oft übergehen wir in solchen Situationen einen eigentlich unübersehbar grossen Entwicklungsprozess – und der hat eben mit dem im Titel erwähnten langen 4. Schwangerschafts-Trimester zu tun und mit der Gehirnentwicklung von uns Menschen:

Bei der Geburt ist das Gehirn nämlich der am wenigsten differenzierte Körperteil – wir sind quasi alle Frühgeburten, ein Kompromiss zwischen der Grösse des menschlichen Gehirns/Kopfs und dem Becken der Frau. Das Gehirn ist bei der Geburt also noch nicht spezialisiert und deshalb noch sehr plastisch, also formbar, und vor allem auch bereit, geformt zu werden. Auch wenn in den ersten drei Lebensjahren die grösste neurologische Aktivität stattfindet,…

…braucht unser Gehirn fünf bis sieben Jahre gesunder Entwicklung, bis alle Gehirnteile miteinander verkabelt sind und miteinander kommunizieren können – vertikal als auch bilateral, also rechte und linke Hirnhälfte.

Und bis das alles wirklich miteinander verkabelt ist, erleben unsere Kinder einfach einen Wust an Gedanken, Gefühlen, Impulse – ein Durcheinander, das noch keine Struktur hat und bei dem sich kein klares Bild ergibt. Etwas mehr innere Ausgeglichenheit und Klarheit stellt sich erst ein, wenn der präfrontale Kortex (also der Teil gleich hinter unserer Stirn) seine volle Funktionsfähigkeit aufgenommen hat und hierfür brauchen unsere Gehirne unter günstigen Bedingungen geschlagene fünf bis sieben Jahren!

Davor sind unsere Kinder quasi von Natur oder «von Gehirn aus» impulsiv und unausgeglichen!

Das heisst, sie können also nur einen Impuls, einen Gedanken, ein Gefühl in einem Moment wahrnehmen! - Also nur: «Nein, die Schaufel gehört mir und ich will nicht teilen!» und nicht gleichzeitig noch «ah, wenn ich dann später deine haben will, wär’s doch jetzt gut, wenn ich teilen würde» oder «wenn ich sie dir nicht gebe, mache ich gleich die ganze schöne Situation kaputt und dabei spiele ich doch eigentlich gerne mit dir». Oder nur: «Nein, ich will jetzt mit Luisa und Sophia alleine in der Familienecke spielen – du darfst nicht dazustossen, sonst geht unser Spiel kaputt» und nicht gleichzeitig noch: «Ah, ich sehe, du hast niemanden zum Spielen gefunden und fühlst dich unwohl… das kann ich verstehen.»

Unsere kleinen Kinder kennen diese ausgleichenden Elemente zwar, können sie aber noch nicht gleichzeitig mit anderen Impulse wahrnehmen.

Diese ganz natürliche Unfähigkeit, widersprüchliche Gedanken, Impulse und Gefühle gleichzeitig (!) wahrzunehmen, führt unter anderem dazu, dass

  • unsere (kleinen) Kinder oft impulsiv sind und sie noch keinen Mittelweg zwischen Extremen kennen,

  • sie «kurzsichtig» sind und den Sinn von Arbeit noch nicht verstehen;

  • sie davon ausgehen, dass sich die Welt um sie alleine dreht;

  • ihre Auffassung von Fairness gelinde gesagt einseitig ist

  • Taktgefühl oder Diplomatie zu Recht noch Fremdwörter sind.

Wenn wir Erwachsenen (kleinen) Kindern gerecht werden wollen, müssen wir ihre natur- oder eben «hirngegebene» Unreife anerkennen und in unsere eigenen Handlungen einfliessen lassen - für uns «reife», innerblich ausbalacierte und zentrierte Erwachsenen dürfte das ja kein Problem sein ;o)

 

PS. Was das alles im Detail heisst für die Begleitung von Kindern unter 7 (oder allen, die sich so benehmen), darum dreht sich auch unsere aktuelle Podcast-Serie und vor allem auch der Kurs «Kinder mit ganzem Herzen sehen», der nach den Sommerferien startet.


* Und mehr zum Thema findet sich auch im wunderbaren und sehr empfehlenswerten Buch «Vertrauen, Spielen, Wachsen» von Deborah McNamara (Genius Verlag).

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Bin ich hier eigentlich der Abfallkübel?!?

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