Die Bindungswurzeln bespielen

Wie wir die Beziehung zu unseren Kindern & Jugendlichen dank und mit den sechs Bindungsstufen nähren können

Bindung ist unser grundlegendstes Bedürfnis und unser Hunger danach, dazuzugehören, gleich (oder «normal») zu sein, Wertschätzung zu erfahren, geliebt und wirklich gesehen zu werden oder schlicht «verbunden» zu sein (Stichwort Handy!) übertrumpft alles andere. Das ist bei uns Erwachsenen so und stimmt in noch viel grösserem Masse für unsere (noch unreifen) Kinder & Jugendlichen.

Damit unsere Kinder & Jugendlichen ihre Ressourcen in ihre Entwicklung - in «natürliches Lernen» - investieren können und nicht die ganze Energie in die Suche nach Bindungs-Nahrung investieren müssen, ist es so wichtig, dass wir (Eltern, Lernbegleiter*innen etc.) ihren Bindungshunger stillen.

Oft werde ich gefragt, wie wir das mit «der Bindung» denn machen können.

Und da unser Ansatz keine Technik ist, sondern eine Haltung, gibt es auch keine einfachen Tipps und Tricks oder Worthülsen, die in jeder Familie und mit jedem Kind in jeder Situation funktionieren.

Und deshalb muss ich bei dieser Frage jeweils etwas ausholen:

Ganz offensichtlich hat es etwas mit Alpha zu tun - also damit, dass wir Erwachsenen in den Lead gehen, in Sachen Beziehung die Verantwortung übernehmen und unseren Kindern Wärme, Orientierung, Schutz und Unterstützung anbieten - also quasi den Tisch decken, um ihren Bindungshunger zu stillen.

Und diese Alpha-Haltung bleibt auch dann wichtig, wenn wir unser Wissen rund um die sechs Stufen der Beziehungsfähigkeit (die «sechs Bindungswurzeln») dem Bild des gedeckten Tisches hinzufügen: Wir laden unsere Kinder ein in diesen Tanz.

Indem wir die sechs Bindungswurzeln bespielen, können wir die Beziehung zu unseren Kindern & Jugendlichen nähren und vertiefen oder auch aufbauen, und zwar…

  • sowohl situativ (wenn die Kinder aus der Schule nach hause kommen - oder als Lernbegleiter*in: wenn sie am Morgen ins Schulzimmer kommen)

  • als auch grundsätzlich (wenn wir bspw. als Lernbegleiter*in eine neue Klasse übernehmen).

Auf welchen Stufen sich unser Kind an uns gebunden hat, ist eine Frage des Alters - aber eben nicht nur: Hier spielen Reifwerdung und weiche Herzen (also die Fähigkeit, Emotionen zu fühlen) eine wichtige Rolle. Wenn wir unsere Kinder und Jugendlichen gut beobachten, werden die Bindungsstufen schnell ersichtlich. - Vorab aber noch dies:

Es handelt sich hierbei nicht um eine Technik oder um ein Instrument, mit welchem wir etwas erreichen wollen. Die Beispiele unten sollen Ausdruck unserer inneren Haltung sein und vor Herzen kommen! Alles andere entlarven Kinder & Jugendliche sowieso und schneller als uns lieb ist.

Also, wie bespielen wir diese Bindungs-Wurzeln nun ganz konkret? (Die Unterteilung in Eltern und Lernbegleiter überlasse ich in grossen Teilen und gerne dem Leser resp. der Leserin):


Bindung über die Sinne

… in dem wir ganz viel Zeit sinnlich zusammen verbringen. Das kann sehr gerne, muss aber nicht immer das explizite Kuscheln oder das gemeinsame Schlafen im Zelt sein: So ziemlich alle (bildschirmfreien) Spiele für Kinder involvieren die Sinne – seien es gemeinsame Karten- oder Brett-Spiele, das gemeinsame Durch-die-Stube-Tanzen oder -Singen oder auch Fangis- oder Verstecken-Spielen (hier geht es ja im sicheren Rahmen des Spiels darum, ohne Bindung und somit «verloren» zu sein, darum halten es kleine Kinder ja auch nie lange im Versteck aus, sondern tun alles dafür, gefunden zu werden). Oder wir laden unsere Kinder beim Vorlesen oder im Zug ganz explizit auf unseren Schoss ein. Und eine ganz wunderbare Art der Verbindung ist diejenige über die Augen, denn wir Menschen lesen im Blick unseres Gegenübers, ob wir in seiner Präsenz willkommen sind:

Ein warmer, weicher und offener Blick, ein freudiges Strahlen vermittelt unseren Kindern, dass sie herzlich eingeladen sind in unsere Präsenz.

Das gilt insbesondere auch für den schulischen Kontext, in dem Berührungen aus verschiedenen Gründen schwierig sein können. Hier spielen die Augen und die Stimme - also die Wärme und das Wohlwollen darin - eine wichtige Rolle. Und wenn wir uns auf die (Augen-)Höhe der Kinder begeben und bspw. in die Hocke gehen, finden wir automatisch in eine andere Haltung (mehr dazu in derer Podcast-Folge #21).

Bindung über Gleichheit

… in dem wir immer wieder all das betonen, was bei uns und unserem Kind/unserer Jugendlichen/unserer Schüler*in gleich ist: Das geht bei Eltern jeden Tag sooo oft – bspw. beim Milchschaum auf der Tasse («Du hesch jo Schuum uf dinere Ovi wie’n’i uf mim Kafi!»), bei der gleichen Schuh- oder Kleider-Wahl («Mir hend jo beidi Sandale/es Röckli a!»), bei Liedern, die beiden gefallen («Gfallt dir das Lied au? – Mir au!») bis zum gemeinsamen Nachnamen. Das klingt im ersten Augenblick sehr trivial und banal, doch das Strahlen in den Augen der Kinder zeigt immer wieder, wie fundamental die Botschaft ist, die wir hier überbringen.

Und da diese Bindungsstufe die unverletzlichste ist, lässt sie sich auch im schulischen Kontext prima bespielen: In dem wir Aspekte suchen, die wir mit unseren Schüler*innen teilen (ein Hobby, eine Essgewohnheit, Musik, eine gemeinsame Fremdsprache, die gleiche Schuhfarbe, die gleich Vorliebe für Sketchnotes oder die gleiche Tätigkeit am Wochenende - «ar schöne grüene Aare nah»), laden wir sie ein resp. bauen wir eine Beziehung auf und nähren diese gleichzeitig.


Bindung über Zugehörigkeit und Loyalität

… indem wir immer wieder hervorheben, dass wir zusammengehören und zusammenhalten, bei Mutter-Kind bspw. so: «Du und i, mir sind zäme mit üsem Hund ufere Rundi» oder «Im Zug sitzed mir denn näbedenand – mir ghöred jo zäme» oder «Ja, du darfsch i mim Bett iischloofe, du ghörsch jo zu mir – i träg di übere, wenn i au is Bett gang». Das geht auch in der Schule, bspw. so «Ja, ich bin DINI Frou Lüthi, DINI Chindergärtnerin» oder «Ich habe am Wochenende an euch gedacht, als YB gewonnen hat». Und vor allem in schwierigen Situationen oder bei längeren (Krankheits-)Abwesenheiten der Schüler/innen, ist die Message, dass wir als Lernbegleiter*in zu ihnen halten, auf ihrer Seite sind, sie vermissen und uns auf sie freuen, so wichtig.

Bindung über Wertschätzung

… in dem wir die Einladung, die unsere Kinder in unseren Augen lesen konnten, in den verschiedensten Situationen auch in Worte packen. Als Eltern: «I freue mi so, dass es di i mim Läbe git – eifach will du du bisch», oder «Mit dir zäme choch i eifach gern!» oder «Hüt rägnet’s zwor, aber i mim Herz schiint gliich d’Sunne – weisch wieso? Will’s di git!».

Oder als Lernbegleiter*in: «Schön euch zu sehen - ich hoffe, ihr hattet ein gutes Wochenende? Ich habe auf dem Weg hierher einmal mehr gemerkt, wie sehr ich mich auf euch freue!» Ich weiss natürlich, dass das für viele Lehrer/innen weit hergeholt ist, doch diese einladende Haltung und die Message, dass wir uns auf, über und an der gemeinsamen Zeit mit unserer Klasse/Lerngruppe freuen, ist so wichtig! Vielleicht müssen wir uns manchmal innerlich etwas strecken, um diesen Ort in uns zu finden - aber es lohnt sich allemal, denn nicht selten wird er zum Game-Changer.

Beim Thema Wertschätzung ist einfach wichtig zu beachten: Nicht die Leistung des Kindes soll wertgeschätzt werden, sondern das Kind selbst! Die Belohnung ist flüchtig, denn sie ist abhängig vom Verhalten oder von der Leistung. Nur wenn sich unsere Wertschätzung auf das Wesen des Kindes bezieht, hat sie bestand.

Bindung über Liebe

Hier verlassen wir den Bereich der Schule, denn auch wenn es so grundlegend ist, dass unsere Kinder spüren, dass ihre Kindergärtnerin oder ihr Lehrer sie mag - verbalisieren würde ich das nicht, oder höchstens im Sinne einer Erwiderung («I ha die so gern, Frou Lüthi!» - «Ja, i di natürlich ou, Luisa.»)

Anders ist das im familiären Kontext, in dem Kinder, die auf dieser Stufe der emotionalen Intimität oder «Liebe» an uns gebunden sind, uns das ganz offenkundig kommunzieren: Sie schenken uns wortwörtlich ihre Herzen und unterstreichen das, indem sie uns Herzen in allen Formen und Farben malen und basteln und bspw. beteuern, auf immer und ewig bei uns leben und uns gar heiraten zu wollen. Bei meinen Kindern musste (und muss) ich auf dieser Stufe vor allem eins sein: Schneller als sie! Nicht, dass es ein Wettbewerb wäre, aber wir alle wissen, wie wichtig es ist, dass der andere das «I han di gärn» zuerst sagt. Und deshalb versuche ich, meine Kinder immer wieder zu überraschen und zu übertrumpfen, in dem ich ihnen das «I han di gärn» zuerst und ganz unverhofft ins Ohr flüstere oder mit einem Kuss auf die Backe klebe (Einladung in den Augen inklusive, versteht sich). Denn auch hier gilt - wir sind als Erwachsene in Sachen Beziehung im Lead!

 

Über Vertrautheit (psychologische Intimität)

Auf dieser tiefsten und zugleich auch verletzlichsten Bindungsstufe, auf der uns Kinder und vor allem auch Jugendliche ihre Herzen nicht nur schenken, sondern uns auch offenbaren wollen, was in ihren Herzen drin ist (inkl. Zweifel, Unsicherheiten oder «Gugus», den sie angestellt haben und der als Geheimnis trennend wirkt), gilt es vor allem, sich die Zeit und den Raum zu nehmen, um aufmerksam und mitfühlend zuzuhören. Und wichtig ist, dass wir das geschenkte Vertrauen nicht missbrauchen oder all die aufkommenden Unsicherheiten, Wünsche und Verwirrtheiten nicht mit gut gemeinten Vorschlägen oder zu vielen Erzählungen aus der eigenen Erfahrungskiste im Keim ersticken (mehr dazu in unserem Kurs «Teenager verstehen»).


Und zum Schluss nochmals das Plädoyer vom Anfang:

Es geht um eine innere Haltung und deshalb sind all diese Beispiele nicht als Technik sondern nur als mögliche Beispiele zu verstehen, die ganz unbedingt der persönlichen Färbung jeder Mutter, jedes Vaters und jeder Lehrerin resp. jedes Lernbegleiters bedürfen!

Und ganz wichtig: Diese Botschaften sind keine Instrumente, mit denen wir etwas (bspw. diszipliniertes Verhalten) erreichen wollen - sie sollen von Herzen kommen!

 


Zum Weiterlesen oder Vertiefen:


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