Eingeladen – und zwar so richtig (doppelt)
Bindungsbasiert ins neue Schuljahr - eine vierteilige Serie für Lehrerinnen, Lernbegleiter, Kindergärtner und Spielgruppen-Leiterinnen (3/4)
Gleich vorneweg: Einladend waren bis jetzt so ziemlich alle Kindergärten, Spielgruppen-Räume oder Schulzimmer, die ich in den letzten Jahren besuchen durfte – zumindest ganz sicher diejenigen bis und mit Basisstufe*. Oft waren sie sogar so liebevoll eingerichtet und angefüllt mit so vielen «aamächeligen» Spielmöglichkeiten, dass ich mir während Elterngesprächen des Öftern wünschte, es würde hier nicht «nur» um die Standortbestimmung meiner Kinder gehen, sondern vielmehr darum, ob und wie ich gleich selbst ins Spiel finden würde ;o)
Was ich damit sagen will: Ganz offensichtlich haben die allermeisten Menschen, die eine Spielgruppe leiten oder auf der Basisstufe als Lehrer*in arbeiten, ein Händchen für Einrichtung, Farbkompositionen oder für die Präsentation von Spiel- und Lernmaterialen! Ich denke da an liebevoll eingerichtete Familien- oder Bau-Ecken, an farbenfrohe und doch zweckmässige Garderoben, an wunderbare Kleine-Wassermann-Welten auf ursprünglich grauen Wandtafeln oder an selbst gebastelte Ich-bin-Ichs. – Kurz:
Wenn ich gleich davon schreiben werde, dass sich die Kinder von ihren Spielgruppen-Leiter*innen oder Basisstufen-Lehrkräfte doch mehr und so richtig «eingeladen» fühlen sollten, dann meine ich nicht diese gestalterische Dimension – hier sind die meisten Profis resp. wäre ich hier diejenige, die so einiges lernen könnte – ich meine die Beziehungsebene.**
Wieso ist die Einladung so wichtig?
Mal ganz abgesehen davon, dass auch wir Erwachsenen uns nur sehr ungern an Orten aufhalten, an denen wir ganz offensichtlich nicht willkommen sind (schon gar nicht fünf Tage die Woche): Für kleine Kinder ist die Einladung noch viel grundlegender, denn sie sind – wie wir wissen – (noch) nicht für Trennung gemacht. Es ist also ganz essentiell für sie, dass auf der anderen Seite des Bindungsstabes jemand ist, die/der sie von Herzen willkommen heisst!
Und genau hier kommt eben die Einladung ins Spiel - eine ausdrücklich herzliche resp. «richtig dicke, fette» Einladung -, und zwar in doppelter Ausführung.
Aber was meine ich damit? Mit einer «richtig fetten» Einladung bringen wir zwei Messages rüber:
Die erste Message: Du bist hier willkommen…
Eine Einladung signalisiert zum einen: Ich freue mich auf dich, du bist hier herzlich willkommen - und zwar so wie du bist!
Mit diesem Teil der Einladung heissen wir unser Gegenüber in unserer Präsenz willkommen und zeigen, dass wir uns Zeit nehmen für sie/ihn. Das gilt für eine Einladung ins Restaurant ebenso wie für eine Einladung zum Abendessen bei Freunden.
Diese Einladung überbringen wir mit einem Lächeln im Gesicht und in den Augen oder mit einem freundlichen «Herzlich willkommen, Bastian!» - oder auch mit einem Brief, den die Kinder vor Schuljahresbeginn im Briefkasten finden. Oder – besonders schön – mit etwas Kleinem zum Festhalten nach dem Schnuppermorgen, bspw. diese Ausmalblumen «8 Wochen bis zum Kindergarten-Start»
… und zwar so wie du bist
Wichtig ist einfach, dass wir diesen Teil der Einladung nicht beim kleinsten Holpern zurückziehen und sie auch dann aufrechterhalten, wenn’s grad schwierig ist und der/die Eingeladene bspw. wenig Wertschätzung zeigt oder sich nicht so verhält, wie wir uns das wünschen:
Die Einladung soll für das Kind als solches gelten und nicht für sein (angepasstes) Verhalten.
Um nochmals auf das Beispiel mit der Essens-Einladung zurück zu kommen: Wir ziehen die Einladung ja auch nicht zurück, nur weil unser Gegenüber das Apéro nicht schätzt! – Im Gegensatz zum Kindergarten kann es unter Erwachsenen aber durchaus vorkommen, dass der Gastgeber nach einem «miss-stimmigen» Abend nicht mal mehr im Traum daran denken mag, in nächster Zeit eine weitere Einladung auszusprechen. Im Kindergarten ist aber genau das so wichtig: Dass wir unsere Einladung gerade auch dann aufrechterhalten, wenn es holpert oder Sand im Getriebe ist.
Die zweite Message: Ich sorge für dich
Um den zweiten Teil der Einladung zu verstehen, müssen wir uns nochmals grundsätzlich mit Bindung auseinandersetzen. In den ersten beiden Folgen dieser Serie haben wir gesehen, dass der Sinn und Zweck von Bindung ist, uns Erwachsenen Fürsorge zu ermöglichen und gleichzeitig unseren Kindern Abhängigkeit zu erleichtern – und wir haben argumentiert, dass diese Abhängigkeit eine verletzliche Sache ist.
Unter dem Strich ist es nun mal schlicht und einfach so: Spielgruppen- und Basisstufen-Kinder sind abhängig von ihren Lehrer*innen – und das kann ganz schön ungemütlich sein für das Kind. Oder wer von uns Erwachsenen ist schon gerne abhängig von einem launigen Chef, dem man nicht vertraut und der einem willkürlich länger arbeiten lässt, oder von einer Chefin, die nur das eigene Wohl im Fokus hat oder den Team-Kollegen bevorzugt behandelt?
Dieses Wissen um Abhängigkeit und Verletzlichkeit sollte uns die Augen öffnen dafür, wie wichtig die Rolle ist, die wir Lehrer*innen spielen – und wie grundlegend die zweite Message der Einladung ist: «Du kannst dich an mich anlehnen und mir vertrauen – ich sorge für dich.»
Ich komme nochmals auf das Beispiel mit der Esseneinladung zurück, denn hier scheint uns das intuitiv klar: Wenn ich eingeladen bin, erwarte ich nicht, dass ich die Spaghetti selber aus dem Vorrat holen oder den Tisch selber decken muss – nein, es geht ja genau darum, dass wir uns der Fürsorge des Gastgebers hingeben können (wohlerzogen wie ich bin, habe ich früher als Eingeladene zig mal gefragt, ob ich nicht doch etwas helfen könne – heute habe ich begriffen, warum das nur in ganz dosierter Form gut an kommt beim Gastgeber: Es stellt sonst die Essenz seiner Einladung in Frage!).
Umgemünzt auf den Kindergarten heisst das in etwa:
«Willkommen in meinem Reich, hier schaue ich zu dir und dafür, dass du dich sicher und wohl fühlst. Du kannst dich an mir orientieren und mich alles fragen. Und ich zeig dir alles – nicht nur, wo das Klo ist, sondern auch, wie wir uns begrüssen, wie wir Pause machen etc.»
Natürlich ist damit mehr die Haltung hinter den Worten als die Worte selbst gemeint (die darf jede/r selber wählen, so dass sie ihm/ihr auf den Schnabel passen - Hauptsache authentisch!). Und natürlich ist es auch hier so wichtig, dass wir diese Einladung nicht just dann zurückziehen, wenn das Kind sie am meisten braucht – wenn es bspw. ein Problem oder einen Konflikt hat («Ihr solltet das jetzt selber lösen können»), wenn es eine Krise schiebt (in meiner Sprache: «Mir ist etwas viel zu viel») oder wenn es aggressiv ist (ebenfalls in meiner Sprache: «Etwas läuft nicht so, wie ich das gerne hätte, und ich weiss nicht, wie ich damit umgehen soll»).
Fazit: Wenn wir «bindungsbasiert» ins neue Schuljahr starten wollen, kommen wir um diese doppelte Einladung nicht herum, denn wirklich «bindungsbasiert» heisst nicht «nur», dem Kind Wärme zu vermitteln (also liebevoll auf es eingehen, im zuhören etc.), es heisst eben auch fürsorglich zu sein, Orientierung und Schutz zu bieten und es in die Abhängigkeit einzuladen, immer und immer wieder - und vor allem dann, wenn es nicht rund läuft und holpert.
PS. Mehr zum dazu gibt es in unserem Kurs «Kinder unter 7 verstehen» und auch unsere Podcast-Serie dreht sich um diese Altersgruppe.
* Die Schulzimmer auf Stufe Sek II, auf der ich 10 Jahre lang unterrichtet habe, liessen da meist etwas zu wünschen übrig, vielleicht weil die Klassen und Fächer oft wechselten im Wochenverlauf – aber vielleicht auch nicht nur?
** Ich gebe zu, so ganz scharf und in allen Situationen kann man Einrichtung/Raum und Beziehung nicht trennen. Ich tu in den Blog-Eintrag aus Gründen der Einfachheit und der Verständlichkeit trotzdem so, als ob das immer ginge.