“Ich will selber!” - Sind wir wieder in der Trotzphase?

Ich lese seit je her sehr gerne historische Romane. Da alle unsere Kinder ebenfalls «Leseratten» waren, freute ich mich auf den Tag, an dem meine Töchter all die Romane, die ich so liebe, lesen würden. Kaum hatte die Älteste das Teenageralter erreicht, schwärmte ich ihr von den tollen Büchern vor und schlug ihr vor, dieses oder jenes Buch doch zu lesen. Ich stellte mir vor, wie wir über die Personen und Handlungen in den Romanen diskutieren würden, und wie gute Gespräche entstehen würden… Doch dann kam die Ernüchterung: Meine Romane blieben ungelesen, stattdessen wandte sich meine Tochter einem Genre zu, mit dem ich so gar nichts anfangen konnte: Fantasy-Romane mussten es sein. Über Monate und sogar Jahre hinweg steckte sie mit ihrem Kopf in den Wolken irgendwelcher Königreiche, Logen und anderen Sphären.

Wie konnte das passieren?

In meiner Begeisterung für historische Romane habe ich komplett ausser Acht gelassen, dass mein Teenager den starken Drang hatte, die Welt SELBST zu entdecken, und sei es nur die Bücherwelt.

In dieser Phase, in der ein Teenager gerade seine eigenen Ideen, Vorlieben, Interessen, etc. also seinen Willen entdeckt, fühlt es sich falsch an, einfach zu tun, was einem die anderen vorgeben. Und je stärker die anderen mit ihren Ideen auftreten, desto stärker wird der Teenager sein «eigenes Gärtchen» verteidigen. Der eigene Wille ist tatsächlich vergleichbar mit einem zarten Pflänzchen, dass noch eine Weile geschützt werden muss. Dieser «Beschützer-Instinkt» hat einen Namen: Gegenwille. Der Gegenwille hilft in der Adoleszenz dem Teenager seinen eigenen Willen erstmal zu entdecken und wachsen zu lassen. Dafür muss er für eine Weile alles, das von aussen kommt, abwehren.

Das ist also ein völlig normales Phänomen, das zur Entwicklung dazu gehört. Wenn alles gut geht, vergeht der Gegenwille zum grossen Teil wieder. Dann nämlich, wenn da eine eigene Persönlichkeit entstanden ist. Ein bisschen Gegenwille bleibt uns aber ein Leben lang erhalten. Kennst du Situationen, in denen sich bei dir der Gegenwille meldet?

Und meine Bücher? Sind inzwischen die allermeisten gelesen! Nachdem ich mich längere Zeit nicht mehr zum Thema geäussert hatte und auch eingesehen habe, dass ich einfach zu früh dran war mit meinen gut gemeinten Ratschlägen, kam das Interesse von allein. Und die Gespräche über die Siedlerzeit in Amerika und die russische Revolution, usw. haben auch stattgefunden und finden immer noch statt. 😊

Begegnungen mit dem Gegenwillen habe ich aber noch mehrere gemacht. Bei uns wohnte er zum Beispiel über lange Zeit im Chaos des Teenagerzimmers…

Meine goldene Regel aus dieser Zeit: Sämtliche Satzanfänge wie «Ich will, dass du…» oder «Du musst jetzt sofort…» etc. sollten wir als Eltern von Teenagern aus unserem Vokabular streichen. Denn ganz egal was danach kommt, der Gegenwille ist bei so einem Satzanfang vorprogrammiert.

Besser wir suchen in ruhigen Minuten das Gespräch oder wir lösen die Sache mit Ironie, Humor oder einfach spielerisch.

Bei uns wanderte einmal ein Buch aus. Es hinterliess die Nachricht, dass es das Chaos nicht mehr aushalten würde und es wieder kommen würde, wenn das Zimmer aufgeräumt sei. Das entsprechende Kind verdrehte die Augen, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und: RÄUMTE SEIN ZIMMER AUF.

Mit Humor und Gelassenheit lässt sich auch dieser Sturm überleben!

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Achterbahnen der Gefühle