Ein Plädoyer für humanistische Schul- & Unterrichts-Entwicklung

Warum nicht die Lernleistung im Fokus von Schulen und Unterricht stehen sollte, sondern die Entfaltung des menschlichen Potentials unserer Kinder

Oder: Warum menschliche Reifwerdung der Grund und Boden ist, auf dem Lernleistung überhaupt gelingen kann

Gestern konnte ich an der PH Bern wiederum einen Input zu humanistischer Schul- und Unterrichtsentwicklung machen. Dieser Blog-Eintrag soll die Essenz davon wiedergeben, aber erstmal:

«I have a dream»

Ich wünsche mir, dass unsere Schulen die menschliche Entwicklung unserer Kinder in den Vordergrund stellen, und nicht nur die Lernleistungen, die zwar so praktisch mess- und quantifizierbar sind, aber – pardon – wenig darüber aussagen, ob unsere Kinder dereinst ein erfülltes Leben führen werden. Mir ist natürlich klar, dass die Schule nicht primär da ist, um die Kinder glücklich zu machen, sondern einen gesellschaftlichen Auftrag hat und die Arbeitskräfte von morgen arbeitsmarktfit machen soll. Doch ob wir da in und für eine Welt, die immer mehr «VUCA» ist, auf dem richtigen Weg sind, lässt sich doch zumindest in Frage stellen.

Ich wünsche mir also einen Austausch darüber, wie menschliche Entwicklung oder Reifwerdung aussieht, was es braucht, damit sie gelingen kann und wie wir das in unseren Schulen umsetzen können. Das wäre aus meiner Sicht das, was natürliches Lernen ausmacht und das, was natürliches Lernen gelingen lässt.

Was heisst denn schon «reif»?!?

Ich möchte an dieser Stelle anhand von Fragen-Sets das Reifwerdungs-Modell des bindungsbasierten Entwicklungsansatzes mitsamt seinen drei Prozessen (Adaption, Integration und Emergenz) einführen und so gleichzeitig aufzeigen, was wir unter der Entfaltung unseres menschlichen Potentials verstehen, resp. was für uns «reif» heisst.

Was ermöglicht unseren Kindern.…

… aus Fehlern oder Scheitern zu lernen, von Korrekturen zu profitieren, Resilienz zu entwickeln oder Frustration nicht in Aggression zu verwandeln?

… auf ein Ziel hinzuarbeiten, sich einzufügen, rücksichtsvoll zu sein, Impulsivität zu überwinden, zu reflektieren oder auf Frustration geduldig zu reagieren?

… eigenmotiviertes Lernen, für sich selbst zu denken, starke Interessen und Neugier, die Grenzen anderer zu achten oder sich selten zu langweilen?

Die drei Reifwerdungsprozesse mitsamt ihren «Früchten» (Abb. 1)

Schule baut auf Reifwerdung…

Wenn wir diese Fragen durchgehen, wird es ganz offensichtlich: Unser Schulsystem baut auf der Reifwerdung der Kinder auf! Wir Lehrerinnen und Lehrer zählen darauf, dass unsere Schüler*innen «reif» sind, also bspw. …

  • mit unseren Korrekturen etwas anfangen können - wieso würden wir sonst ihre Aussprache in Französisch korrigieren oder bei Aufsätzen oder Prüfungen die Fehler herausstreichen?

  • den Sinn von Arbeit verstehen – wieso sollten sie sonst (Haus-)Aufgaben erledigen, auf Prüfungen lernen, einen Math-Plan abarbeiten oder eine Präsentation vorbereiten, wenn draussen die Sonne scheint oder drinnen ein Bildschirm lockt?

  • geduldig mit Frustration umgehen können – wie sollten sie sonst stundenlang stillsitzen oder sich in einem vorgegebenen und schnellen Rhythmus auf neue, für sie vielleicht unliebsame Themen einlassen können?

  • neugierig und eigenverantwortlich sind – wie sollten sie sonst selbstorganisiert lernen können?

Unser Schulsystem baut also auf Reifwerdung auf und unsere Lehrer*innen zählen darauf, doch die Frage sei erlaubt: Sehen wir sie auch, laden wir sie ein, ermöglichen, fördern und priorisieren wir sie?

Oder gehen wir einfach darüber hinweg, wenn Kinder oder Jugendliche in ihrer Reifwerdung feststecken, und stellen uns auf den Standpunkt, dass «man das in diesem Alter halt können sollte» - und fordern es resolut von ihnen ein, notfalls auch unter der Androhung von «Konsequenzen»? Im Sinne von: «Ich habe dir jetzt schon zum hundertsten Mal gesagt, dass du nicht so rumzappeln /deine Arbeit pünktlich abgeben sollst – beim nächsten Mal gibt’s eine Strafe!»

Kann es sein, dass wir im Hinblick auf unsere Kinder vergessen, dass Reife nicht zwangsläufig mit dem Alter kommt?

Reifwerdung im Überblick (Abb. 2)

Ein umfassendes Modell für menschliche Reifwerdung

Um Reifwerdung zu sehen, zu ermöglichen und zu priorisieren, brauchen wir zuallererst eine Diskussion-Grundlage resp. ein Modell, anhand dessen wir überhaupt über menschliche Reifwerdung sprechen und ihr Vorhandensein oder Fehlen diskutieren können. Der bindungsbasierten Entwicklungsansatz umfasst so ein Modell und er beschreibt für die drei Frage-Gruppen von oben (Abbildung 1) drei Prozesse:

  • den adaptiven Prozess, also das Wachsen an Begegnungen mit Vergeblichkeit

  • den integrativen Prozess, also das Reif-Werden durch das Erleben innerer Dissonanzen und Konflikte

  • den emergenten Prozess, also den Aufbruch ins Neue, wenn das Zuhause sicher ist.

Der bindungsbasierte Entwicklungsansatz beschreibt diese drei Prozesse aber nicht nur, er liefert auch Antworten auf die Frage, wie sich Reifwerdung entwickelt:

Weder «nature» noch «nurture»

Wir alle wissen, dass sich die oben in Fragen verpackten «Kompetenzen» nicht zwangsläufig bei allen Menschen entwickeln – deren Entfaltung ist also keine Frage der biologischen Voraussetzung («nature»). Und wir alle wissen auch, dass wir unsere Schüler*innen solche Dinge nicht lehren und sie schon gar nicht darin unterrichten können (also auch kein «nurture», auch wenn ich glaube, dass diese Erkenntnis noch nicht alle Erwachsenen erreicht hat – im Sinne von «Hab endlich mal eine eigene Meinung/Idee!» Oder «Du musst halt einfach aus deinen Fehlern lernen!»).

Diese Kompetenzen lassen sich nicht wie Wissen vermitteln oder willentlich erreichen – sie müssen gelingen resp. wachsen können und entwickeln sich spontan, wenn die Bedingungen günstig sind.

Und damit sind wir bei der Frage, was es braucht, damit Reifwerdung gelingen kann:

Emotionen - der Motor der Reifwerdung

Emotionen als Schlüssel: Es braucht sie, damit der Motor der Reifwerdung in Gang kommt (Abb. 3)

Ich habe in den letzten Monaten öfters erlebt, dass Erwachsene die Nase gerümpft haben, wenn ich sie damit konfrontierte, dass Emotionen so wichtig sind*, ja, dass sie der Motor der Reifwerdung sind. Und richtig kraus wurden die Nasen oft dann, wenn ich betonte, dass es darum geht, Emotionen (also das, was uns unbewusst im Inneren bewegt) zu fühlen (also ihnen sowohl einen Namen als auch den Raum zu geben, um sie bewusst wahrzunehmen). Und, um noch einen Kraus-Faktor oben drauf zu setzen: Es sind vor allem die feinen und verletzlichen Gefühle (und nicht die intensiven und knallig-lauten Emotionen), die so wichtig sind für unsere menschliche Entwicklung! – Um menschlich zu reifen, müssen wir…

  • Vergeblichkeit fühlen können, also bspw. Trauer oder Enttäuschung (adaptiver Prozess);

  • Dissonanzen fühlen können, also widersprüchliche Gefühle wie Fürsorge und Frustration gleichzeitig wahrnehmen (integrativer Prozess);

  • Erfüllung fühlen können, also innerlich Gesättigt-Sein um in Neues aufzubrechen (emergenter Prozess).

Nur wenn wir diese feinen Emotionen ins Fühlen bringen, können wir die Früchte dieser Prozesse (wie in Abbildung 1 als Fragen dargestellt) ernten.

Was unsere Kinder also brauchen, um sich menschlich entwickeln und «reifen» zu können, sind «weiche Herzen».

Kinder, die sich panzern und ihre Emotionen dämpfen oder ausblenden müssen, weil ihre Umgebung oder ihre Beziehungen zu verletzend sind, stecken zwangsläufig in ihrer Entwicklung fest. In der Abbildung unten habe ich das Zusammenspiel zwischen Reifwerdung und Emotionen grafisch dargestellt:

Die Wechselwirkungen zwischen Reifwerdung und Emotionen, resp. der Fähigkeit, die eigenen Emotionen fühlen zu können (Abb. 4)

Ja, und hier kommen wir Erwachsenen ins Spiel – Lehrer*innen ebenso wie Eltern –, denn um Emotionen fühlen zu können, brauchen Kinder einen sicheren Raum (und nicht nur Kinder ;o).


Bindung ist der Schoss der Reifwerdung

Emotionen zu fühlen ist verletzlich, das wissen wir - bewusst oder unbewusst – alle, denn wenn wir unsere Emotionen fühlen, zeigen wir sie auch - sei es uns selbst gegenüber oder indem wir sie gegenüber anderen benennen resp. uns Gefühle wie Angst oder Unsicherheit ins Gesicht geschrieben sind. Und genau hier ist es so - sooo! - wichtig, dass wir in unseren Schulen Lehrerinnen und Lehrer haben, die für ihre Schüler*innen einen sicheren Raum schaffen! Nicht einen physischen Raum, sondern einen Beziehungs-Raum, in dem Gefühle gezeigt werden dürfen und in dem Verletzungen wie Beschämung, Bestrafung, Ausgeschlossen- oder Abgelehnt-Werden aussen vor bleiben. Und hierfür braucht es zwei Dinge:

Das Potential der Bindung an die Lehrperson - lasst es uns nutzen! (Abb. 5)

Zuerst einmal ein Bewusst-Sein für die Wichtigkeit von Emotionen und Gefühlen: Es braucht also Lehrpersonen die bspw. die Ängste, die Unsicherheit oder überhaupt das Unwohlsein von Kindern wahr und ernst nehmen und sich weder darüber hinwegsetzen noch die Kinder beschämen - und das fängt bei kleinen Dingen wie der Angst vor einer Turnübung an («Jetz stell di doch nöd so aa!»).

Und dann braucht es Beziehung! Einen solchen Raum können Lehrerinnen und Lehrer nur über Beziehung schaffen: Es nützt bspw. nichts, Strafen auszusetzen für verletzendes Verhalten, denn Verletzungen geschehen ja oft genau dann, wenn kein Schiedsrichter in Form eines Lehrers zuschaut. Und es nützt auch nichts wegzusehen und zu behaupten, dass die Kinder Konflikte gefälligst selbst regeln sollen! Kinder lernen reifes Konfliktverhalten nicht von gleich-unreifen Gleichaltrigen und scheue Kinder können sich nicht gegen gepanzerte Tyrannen wehren (denen es egal ist, ob sie andere verletzen oder selbst verletzt werden – sie selbst spüren hinter ihrem Panzer ja nichts). Es braucht Lehrer*innen, die so einen sicheren Raum schaffen und halten können und die bereit sind, auch in schwierigen Situationen den Lead zu übernehmen – und für all das braucht es Beziehung.

Denn wenn die Bindung «spielt», schenken uns unsere Schüler*innen ihre Aufmerksamkeit, nehmen unsere Hinweise an und orientieren sich auf ganz natürliche Weise an uns.

Wie Beziehung in Lernsettings gelingt und wie wir an der Beziehung zu unserer Schüler*innen arbeiten können (und dass wir dann die Bindung für uns arbeiten lassen können ;o), darum drehen sich unsere zweiteiligen gleichnamigen Webinare.

Auf den Punkt gebracht

Auf den Punkt gebracht und durch die Brille des bindungsbasierten Entwicklungsansatzes betrachtet, heisst für mich humanistische Schul- und Unterrichtsentwicklung, dass wir in unseren Schulen …

… eine Brille für Reifwerdung resp. für die Entfaltung unseres menschlichen Potentials entwickeln;

Reifwerdung gewichten und verstehen, dass sie der Grund und Boden ist, auf dem schulisches Lernen überhaupt stattfindet kann;

… erkennen, dass viele Lern- oder Verhaltensprobleme auf blockierte Reifwerdungsprozesse zurückgehen und dass wir unseren Schüler*innen helfen, diese Entwicklungsblockaden zu lösen;

… einen «gesunden» Umgang mit Emotionen pflegen – das heisst, dass wir sichere Räume anbieten, in denen Emotionen ausgedrückt, benannt und gefühlt werden können.

… an der Beziehung zu unseren Schüler*innen arbeiten und dann die Bindung für uns arbeiten lassen (siehe dazu meinen Blog-Eintrag «Mächtig um zu dienen»).

Aus diesen Überlegungen wird einmal mehr klar, dass Lehrerinnen und Lehrer in unserer Gesellschaft eine ganz essentielle Rolle spielen, denn ihr Job umfasst viel mehr als um Lesen-, Schreiben- oder Rechnen-Lehren!

Und ich würde mir wünschen, dass wir als Gesellschaft das auch wertschätzen und sich diese Wertschätzung auch in Arbeitsbedingungen, Entlöhnung und gesellschaftlichem Prestige widerspiegeln würde.


Und noch ein letzter Punkt

Neben Reifwerdung, Emotionen und Bindung gibt es im bindungsbasierten Entwicklungsansatz noch einen vierten Eckpfeiler – das echte Spiel. Echtes Spiel dient Beziehungen, Emotionen und Reifwerdung und bringt als Antwort der Natur auf die allermeisten Lern- oder Verhaltensprobleme den Zauber der Leichtigkeit - doch das ist ein anderes Feld und das öffne ich in einem anderen Blog-Eintrag.


Gerne würde ich hier in den Austausch gehen: Welche Bilder oder Modelle habt ihr von menschlicher Reifwerdung? Was denkt ihr: Sollte dieser Aspekt in unseren mehr Gewicht bekommen? Wie könnte so ein Prozess in unserer Schul-Landschaft angestossen werden? Und was würde das für den Unterricht bedeuten resp. wie könnte der Unterricht so ausgerichtet werden?

 

 

PS. Einfach damit es noch explizit gemacht ist: Die Schule ist für mich ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Es greift deshalb zu kurz, wenn wir «nur» die Schule kritisieren und «nur» sie weiterentwickeln wollen – aus meiner Sicht sollte dieser Prozess die ganze Gesellschaft erfassen und dann von ihr aus auf die Schulen übertragen werden.

PPS. Die drei Reifwerdungsprozesse haben wir ausführlich in unserem Podcast beschrieben. Hör mal rein in die Folgen #6 bis #13.

* Marketing-Spezialisten scheinen mir bezüglich der Rolle der Emotionen der gelebten Pädagogik weit voraus zu sein – hier ist die wichtige Rolle der Emotionen hinlänglich bekannt und prima erforscht.

Abbildungen: Simona Zäh, angelehnt an Dr. Gordon Neufeld

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