Wie Kinder aus bindungsbasierter Sicht zu «Mobbern» werden

Was Mobbing mit Bindung zu tun hat (Folge 3/3)

Ums gleich vorneweg zu nehmen: Auch wir kennen ihn nicht, diesen einzigen und alleinentscheidenden Faktor, der dazu führt, dass Kinder oder Jugendliche zu Mobbern werden. Es ist immer ein Zusammenspiel aus verschiedenen Einflussgrössen und jedes Kind hat seine ganz individuell gefärbte Geschichte, doch bin ich mir sicher, dass «Bindung» ein Faktor mit enormem Einfluss ist - und die Grundfärbung jeder Geschichte.


Was macht einen «Mobber» aus?

Schauen wir uns mal an, welche Charakteristika typisch sind für ein mobbendes Kind oder Jugendlichen resp. einen «Bully», wie es im Englischen treffend heisst. Auch hier gilt: Kein Mensch und keine Geschichte gleicht der anderen – aber wenn ich versuche, Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, komme ich auf diese zwei Aspekte:

Da ist sicher der Drang, Dominanz auszuüben – ganz offensichtlich durch das Abwerten, Schikanieren, Beleidigen, Bedrohen etc. des Opfers, aber auch durch das rädelsführerhafte Orchestrieren einer Gruppe von Unterstützer*innen, ohne die Mobbing nicht funktioniert. Damit einher geht meist auch ein treffsicherer Sensor für die Schwächen und Schwachstellen und somit für die verletzlichen Seiten des Gegenübers.

Und dann ist da ganz offensichtlich auch eine gewisse Hartherzigkeit gegenüber dem Opfer resp. die Unfähigkeit, das verursachte Leid und die Verletzungen zu sehen oder gar anzuerkennen.  

Diese beiden Aspekte, Hartherzigkeit und der Drang zu dominieren, haben aus unserer Sicht viel mit Bindung zu tun: Sie haben ihre Wurzeln in den Bindungsdynamiken, in denen ein Kind oder Jugendlicher lebt.

Aber um das zu erklären, muss ich auch in dieser Blog-Folge wieder zwei Begrifflichkeiten ein- und in einem zweiten Schritt zusammenfügen: Panzerung und Alpha-Instinkte.


Panzerung: Ein wunderbarer Schutz gegen unerträgliche Verletzlichkeit…

Panzerungen kennen wir von Rittern oder kugelsicheren Westen und deren Sinn und Zweck erscheint ziemlich offensichtlich: Wenn Ritter im Turnier oder Polizisten bei einer Verfolgungsjagd davon ausgehen, dass sie angegriffen und verletzt werden könnten, schützen sie die lebenswichtigen Stellen des Körpers. Und genau so macht das auch unser Gehirn mit unserem Inneren:

Unser Gehirn schützt uns vor den Auswirkungen von Erlebnissen, Wahrnehmungen oder Gedanken resp. vor den Emotionen, die diese in uns hervorrufen. Es dämpft die Emotionen – und wenn das nicht hilft, schraubt es an unserer Wahrnehmung und blendet Verletzendes gleich ganz aus. So sind wir gepanzert und prima geschützt vor unerträglicher Verletzlichkeit.

Das ist eine wunderbare Fähigkeit unseres Gehirns, die ich schon in Folge 1 beschrieben habe, und die dazu dient, unser «basic functioning» aufrecht zu erhalten (seien es die Grundfunktionen des Organismus oder dass wir unserer Rolle als Mutter oder Lehrer gerecht werden).


… der nicht chronisch werden darf

Es gibt nur einen Haken:

Was, wenn wir die Rüstung am Ende des Tages oder der Woche nicht abziehen können/wollen/dürfen, weil wir nicht ins Fühlen kommen können/wollen/dürfen? - Dann wird die Panzerung chronisch, mit dem Effekt, dass wie ALLE unsere Emotionen nicht mehr richtig fühlen können, insbesondere die verletzlichen Gefühle wie Scham, Fürsorge, Erfüllung oder Trauer nicht. Einen Filter nur für ganz spezifische Emotionen gibt es leider nicht.

Um auf den Ritter zurück zu kommen: Wenn er seine Rüstung nach dem Turnier nicht wieder auszieht, bleibt er zwar (fast) unverletzlich, doch gleichzeitig wird er sich nicht mehr frei bewegen und auch die Umarmung seiner Liebsten nicht fühlen können: Er bleibt gepanzert. – Anders als beim Ritter fällen wir den Entscheid zur Panzerung unserer Herzen oder zum Abziehen der Rüstung resp. zum Aufweichen der Herzen jedoch nicht bewusst – und unsere Kinder und Jugendlichen schon gar nicht.

Was hat das aber mit Bindung zu tun? – Sehr viel, denn wenn ein Ritter seine Panzerung ablegt, zeigt er sich verletzlich. Das wird er nur in einem sicheren Rahmen tun - im Kreise seiner Vertrauten, wo er zur Ruhe kommen kann. Und genauso ist es auch mit unseren Emotionen: Um sie zuzulassen und die Verletzlichkeit, die sie mitbringen, zu fühlen, brauchen wir einen sicheren Raum, in dem wir so, wie wir sind, angenommen werden, und in dem wir vor weiteren Verletzungen sicher sind. Ein solcher Raum kann nur eine sichere und tiefe Bindung zu (mindestens) einem fürsorglichen Erwachsenen bieten.

Was heisst das nun für unseren Mobber?

Das Phänomen der chronischen Panzerung erklärt die Hartherzigkeit, mit der ich oben unseren Bully beschrieben habe: Er oder sie kann Verletzungen bei sich und bei anderen schlicht nicht wahrnehmen, da die Gefühle, die damit einhergehen, weggepanzert sind.

Und das lässt einen weiteren Schluss zu, der ebenso wichtig ist:

Das Gehirn des Mobbers hatte oder hat mit Sicherheit sehr gute Gründe für diese Panzerung, da es ihn/sie vor unerträglicher Verletzlichkeit schützen musste resp. muss. Ganz offensichtlich fehlt(e) ihr/ihm sowohl der «Schutzschild Bindung» als auch der sichere Bindungsraum, indem er/sie die Panzerung hätte ablegen kann.

Wir verstehen jetzt also die Hartherzigkeit von mobbenden Kindern, aber was ist mit dem Drang zu dominieren? Hierfür müssen wir ganz tief in den bindungsbasierten Entwicklungsansatz eintauchen und uns den Alpha-Instinkten widmen:

 

Alpha-Instinkte, der Schlüssel zur Fürsorge

Alpha-Instinkte wohnen uns allen inne – die Natur hat sie geschaffen, damit wir überhaupt in der Lage sind, unseren Nachwuchs aufzuziehen. Im Kern dieses Instinkts bewegt uns unser limbisches System (das «emotionale Gehirn») dazu…

  • Ÿuns zu behaupten und Dominanz auszuüben (damit wir für Ordnung sorgen, den Lead übernehmen oder Entscheide fällen können);

  • ŸVerantwortung zu übernehmen (nur deshalb stehen Eltern mitten in der Nacht auf – weil sie sich verantwortlich fühlen für ihr weinendes Kind);

  • Ÿuns um unsere Liebsten zu sorgen und für sie zu sorgen (Fürsorglichkeit)

Alpha-Instinkte sind also ganz wunderbar und wir brauchen sie ganz dringend, um unseren Job als Eltern, Lehrer, ältere Schwester oder Pfadi-Leiter auszufüllen – das habe ich im Blog-Eintrag «Mächtig um zu dienen» ausführlich beschrieben. Aber nicht nur wir Erwachsenen haben diesen Alpha-Instinkt in uns, auch unsere Kinder und Jugendlichen tragen ihn in sich – das sehen wir bspw. in all ihren Spielen, denn da geht es immer um Alpha, also darum, dass sich jemand um die anderen kümmert, sie anführt, beschützt, belehrt etc. oder schlicht gewinnt oder besser ist.

Fehlgeleitete Alpha-Instinkte

Ich habe nun die Begriffe Panzerung und Alpha-Instinkte eingeführt, jetzt geht es um’s Zusammenführen: Was, wenn Alpha-Instinkte auf Panzerung treffen?!? – Nun, Fürsorglichkeit und Verantwortung sind beides sehr verletzliche Emotionen: Verantwortung kann mit Schuld und schlechten Gefühlen einhergehen und wenn wir fürsorglich sind, öffnen wir unsere Herzen und lassen das Gegenüber und damit auch das Risiko der Ablehnung, des Betrugs etc. herein.

Das heisst: Wenn ein Kind gepanzert ist gegen verletzliche Emotionen, fällt die Fürsorge und die Verantwortung des eigentlichen Alpha-Instinktes weg – und zurück bleibt der Instinkt zu dominieren.

Genauso ist das bei Bullies: Sie haben sehr ausgeprägte Alpha-Instinkte, nur können sie die von der Natur vorgesehen so wichtigen Aspekte der Fürsorglichkeit und der Verantwortung nicht fühlen, weil sie gepanzert sind, und somit bleibt nur der innere Trieb zu dominieren.

 

Dominieren, dominieren, dominieren

Bleibt die Frage, warum ein Mobber so ausgeprägte Alpha-Instinkte hat resp. warum er/sie sich so dominant verhält? - Nun, das Gegenstück zu Alpha ist Abhängigkeit und die ist sehr verletzlich. Wenn wir «in Bindung» sind, sind wir immer im einen oder anderen Modus, denn Bindung ist per se hierarchisch (das habe ich hier beschrieben). Doch irgendwo in seiner Geschichte muss das mobbende Kind erlebt haben, dass Abhängigkeit zu verletzlich ist – vielleicht gab es eine schmerzhafte Erfahrung, in der eine erwachsene Person ihre Position missbraucht hat, vielleicht fand oder findet das Kind zuhause kein wohlwollendes und starkes Gegenüber, das Führung und Verantwortung übernimmt und Sicherheit vermittelt (was bspw. bei einem sensiblen Kind sehr anspruchsvoll ist)? – Auf alle Fälle hat das Gehirn des Bullys irgendwann einmal entschieden, dass es besser und sicherer ist, selbst stets «im Alpha» und somit in der dominanten Rolle zu sein, und nirgends in Abhängigkeit zu gehen.

Wenn ein solches Kind sein Bedürfnis nach Bindung stillt, tut es dies selbstverständlich und immer in der dominierenden und somit unverletzlichen Rolle. Und weil es diese auf keinen Fall verlassen darf, da dann sofort Verletzlichkeit droht, muss es andern immer und überall zeigen, wer der Boss ist – und das macht es eben durch eine herablassende Haltung, Sticheln, Beleidigen, Schikanieren, Demütigen, Einschüchtern, Drohen etc.

Durch unsere Brille betrachtet sind Bullies also bei weitem nicht «nur» Täter, sondern immer auch Opfer von vielleicht etwas versteckten, jedoch mit Bestimmtheit schwierigen und nicht nährenden Beziehungsdynamiken: Es fehlt(e) ein starkes und fürsorgliches Gegenüber, bei dem Abhängigkeit willkommen und nicht verletzend, es fehlt(e) der sichere Bindungsraum, der so wichtig wäre, um auch die feinen und verletzlichen Gefühle zuzulassen, und nicht fehlt(e) zuletzt auch der «Schutzschild», den Bindung aufspannen könnte – all das sind aus unserer Sicht die Voraussetzungen, auf dem sich Kinder zu Bullies entwickeln.

Oder nochmals als Fazit: Es ist die Kombination zwischen der Panzerung gegen unerträgliche Verletzlichkeit und ausgeprägten, aber fehlgeleiteten Alpha-Instinkten, die zu den typischen «Mobber-Merkmalen» führt - zu Hartherzigkeit und zum Drang zu dominieren. Und diese Kombination entwickelt sich nur, wenn der Nährboden einer tragenden und tiefen Bindung fehlt.


Wie gesagt, Bindung ist bestimmt nicht der einzige und allein entscheidende Faktor, der erklären kann, warum Kinder zu Mobbern werden. Übersehen dürfen wir den Faktor Bindung aber auf keinen Fall, denn er ist auch ein Schlüsselfaktor wenn es darum geht, Bullies «zurückzuholen». Aber dafür gibt es vielleicht mal eine weitere Blog-Serie.

Falls dich unsere Sichtweise auf Mobbing und der Blick durch unsere Brille interessiert, schau doch rein in den Mini-Kurs «Mobbing - ein Blick hinter die Kulissen»:

 
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