Mächtig um zu dienen

Ein Plädoyer für ein neues Verständnis von Hierarchie, Macht und Leadership – nicht «nur» in unseren Familien, sondern auch in Schulen und Unternehmen

Kennst du das? Dass dir ein Thema innerhalb weniger Tage aus ganz unterschiedlichen Perspektiven unter die Nase gerieben wird, so aufdringlich und prominent, dass du es nicht mehr ignorieren kannst? So ist es mir die letzten Tage mit den Begriffen «Alpha», «Servant Leadership» und «Hierarchie» ergangen – und weil ich glaube, die Zeichen verstanden zu haben, setz ich mich nun hin und bringe meine Gedanken dazu zu Papier:

Stolperstein «Alpha»

Fangen wir bei «A» wie Alpha an. «Im Alpha sein» ist eines der grossen Themen unserer Kurse und gleichzeitig einer der grossen Stolpersteine auf dem Weg zu erfüllenden Familien-, Lern- und Schulkulturen. Und zwar nicht nur, weil es anspruchsvoll ist, in den turbulenten Situationen des Familien- oder Schulalltags «im Alpha» zu bleiben, sondern weil viele von uns ganz grundsätzlich Mühe haben mit dem Konzept. «Alpha» geht einher mit den Begriffen Führung und Hierarchie und vor diesen schrecken viele von uns innerlich zurück, da sie in unseren Köpfen und Herzen meist negativ konnotiert sind. Und das ist kein Vorwurf: Als Geschichtslehrerin weiss ich, dass das mehr als verständlich und über weite Strecken auch berechtigt war resp. ist.

Und gleichzeitig sind diese Vorbehalte eben auch hinderlich, denn ich bin überzeugt, dass unsere Kinder genau das so dringend brauchen: Eltern, Lehrerinnen und Lernbegleiter, die ihnen gegenüber ein starkes und fürsorgliches Alpha leben. Warum? Weil unsere Kinder Orientierung, Unterstützung, Zugehörigkeit und vor allem auch einen Ort brauchen, an dem sie zur Ruhe kommen, ihre Panzerung ablegen und ihre Emotionen fühlen können, und an dem sie geliebt und gesehen werden. – Und so schwer das auch zu schlucken ist: All das geht einher mit Macht, all das geht nur mit Hierarchie.

So gross unsere Berührungsängste mit diesen Begriffen auch sind: Die Beziehungen zwischen Kind und Eltern/Lehrpersonen sind «von Natur aus hierarchisch».

Das zeigt uns nur schon der Blick in die (Säuge-)Tierwelt: Man stelle sich mal eine Eisbären-Mama vor, die sich von ihren fordernden Jungen herumkommandieren lässt! - Wie aber begründen wir das in der komplexen Welt von uns Menschen, die Demokratie und Gleichberechtigung gross schreiben?

Was Bindung macht - die Macht der Bindung

Um die Begriffe Macht und Hierarchie in einen neuen Kontext zu setzen und somit anders zu konnotieren, braucht es aus meiner Sicht einen kurzen Abstecher ins Thema der Bindung*. In unseren Kursen frage ich die Teilnehmenden oft, was es ausmacht, dass ein Kind unsere Hinweise annimmt, uns seine Aufmerksamkeit schenkt, uns mag, zu uns aufschaut oder uns vertraut – sich also ein Stück weit an uns anlehnt und sich in Abhängigkeit begibt?
 

Die Antwort ist Bindung! All die Aspekte in der Abbildung oben sind eine Frage der richtigen Beziehung und haben nichts zu tun mit Rollen oder Techniken:

Ein paar Worte zu «Rollen»:

Nur weil wir uns den Kindern in unserem Klassenzimmer Anfang Schuljahr als ihre neue Lehrperson vorstellen, heisst das noch lange nicht, dass sie uns zuhören oder folgen – und «nur» weil wir unsere Kinder gezeugt und auf die Welt gebracht haben, ist das noch lange keine Garantie dafür, dass sie uns vertrauen oder uns erfreuen möchten. Das ist ein verbreiteter Irrtum, der zu viel Frustration auf beiden Seiten führt, denn was in beiden Fällen braucht ist Beziehung! Und natürlich sind wir als Lehrpersonen und vor allem auch als Eltern in der Pole-Position hierfür, wir dürfen aber nicht an der Startlinie stehen bleiben.

Ein paar Worte zu «Techniken»

All die kreativen und ausgeklügelten Belohnungs- und Bestrafungs-Techniken, die in vielen Familien und Schulzimmern praktiziert werden, um unsere Kinder/Schüler*innen dazu zu bringen, uns zuzuhören, uns zu respektieren oder uns zu «folgen», erweisen sich mit zunehmendem Alter der Kinder (Jugendlichen) als Boomerang: Nach dem jahrelangen Training sind sie Profis im Umgehen, Ad-Absurdum-Führen oder schlicht im Sich-Darüber-Hinweg-Setzen. Was es auch hier bräuchte ist: Beziehung.

Ach, und es hat auch nichts mit Wissen, Genetik oder mit Abschlüssen und Titeln zu tun – es ist wirklich und einfach «nur» eine Frage der Beziehung.

Eine funktionierende und somit für beide Seiten erfüllende Beziehung zwischen Kind und Eltern/Lehrperson ist also Funktion der Bindung: Der oder die Erwachsene bietet dem Kind das an, was es sucht und braucht, um sich zu entwickeln: Orientierung, Unterstützung, Zugehörigkeit, Schutz etc. Und genau hier steckt Hierarchie und Macht drin: Der eine bietet an, der andere sucht, das Kind schaut zum Erwachsenen auf, der Erwachsene schaut nach oder zum Kind.

Zwei Arten von «Macht»

Ich spreche in unseren Kursen gerne von «Bindungs-Macht» und von «angemasster Macht» (ein Begriff, der mich an einen Massanzug erinnert, den man sich zu repräsentativen Zwecken anzieht) und ich merke immer wieder, wie anregend untenstehende Gegenüberstellung ist – und wie hilfreich beim Neu-Konnotieren der Begriffe Macht oder Hierarchie:

Es ist also diese Art von Hierarchie und Macht, die uns Eltern oder Lehrpersonen «im Alpha» sein und die Bedürfnisse unserer Kinder & Jugendlichen erfüllen lässt. Und es ist auch diese Art von Hierarchie und Macht, die zumindest mich immer mal wieder (müde) schmunzelnd feststellen lässt, dass ich gegenüber meinen Kindern zwar im Lead bin, aber oft das Gefühl habe, dass meine eigenen Bedürfnisse ob all den mannigfaltigen Bedürfnissen meiner Kinder zu kurz kommen.

 

«Servant Leadership: Was heisst das»

Ja, und hier bin ich nun beim Begriff des «Servant Leaders» angelangt, dem Mikael Krogerus und Roman Tschäppeler in der aktuellen Ausgabe von DAS MAGAZIN auf die Spur gehen und den sie so knapp und poetisch beschreiben (siehe unten). Ist nicht genau das die neue (alte?) Form von Führung, die unsere Unternehmen und mit ihnen auch unsere Schulen in unserer komplexen (VUCA)-Welt brauchen? Und die Frage sei erlaubt:

Könnte dieses Konzept der Kind-Eltern-Bindung nicht auch in unseren Führungs-Etagen und Schulleitungs-Büros angewandt werden? – Der Chef, der im Dienste der Bedürfnisse der Mitarbeitenden steht?


Bindung, Hierarchie und Macht als Tanz

Natürlich nicht im Sinne einer so «stabilen» Hierarchie wie zwischen Kind und Eltern, sondern im Sinne eines Tanzes, bei dem je nach Thema auch mal ein Team-Mitglied den Lead übernehmen und die Chefin in den «abhängigen» Modus wechseln kann (bspw. gegenüber der Finanz-Spezialistin, die ihr die neusten Entwicklungen erklärt)?

Dieses Bild des Tanzes vor dem Hintergrund eines neuen Hierarchie- und Macht-Verständnisses liegt mir sehr am Herzen. Denn…

… wenn wir Beziehungen als Tanz verstehen, bei dem mal der eine, mal der andere den Lead hat, finden wir zu mehr Ruhe und zu mehr Erfüllung – und das wäre für uns als Familien, als Schulen, als Unternehmen, aber auch als Gesellschaft wunder-bar.


Tanzend Erfüllung und Ruhe finden

Ruhe und Erfüllung gehen in diesem Tanz Hand-in-Hand, denn wenn wir uns zugestehen können, in gewissen Bereichen im «abhängigen» Modus sein und uns der Führung eines anderen überlassen zu dürfen – ohne schlechtes Gewissen und ohne gleichzeitig den anderen in seiner Alpha-Rolle zu piesacken oder schlecht zu machen - fänden wir zu mehr Ruhe und auch zu mehr Erfüllung (schlicht weil unsere Bedürfnisse von jemand anderem erfüllt werden).

Und wenn wir gleichzeitig in anderen Bereichen einen Schritt nach vorne machen und den «Lead» übernehmen können – ohne von anderen subtil behindert oder in die Ego-Ecke gedrängt zu werden und ohne den inneren Mahnfinger, der uns signalisiert, dass das in demokratischen Kulturen doch eigentlich nicht geht –, wenn wir also in unserer Kraft sein dürfen, sie im Dienste der anderen einsetzen und in unserem Engagement gesehen und wertgeschätzt werden, dann ist das Erfüllung pur und bringt eine ganz tiefe, innere Ruhe mit sich.

Oder wie es Krogerus und Tschäppeler zum Schluss ihrer Kolumne formulieren:

«Man darf das nicht mit Selbstlosigkeit verwechseln, denn wenn wir andere beim Erreichen ihrer Ziele unterstützen, entsteht Vertrauen in unsere Kompetenz und Absichten. Das wiederum führt dazu, dass andere sich uns gerne anschliessen».


Ich glaube auf jeden Fall daran, dass wir in unseren Familien den Samen legen für diese neue Art von Leadership, Macht und Hierarchie, und dass dies unser Schlüssel zu mehr Ruhe und Erfüllung ist.

Und: Ich würde mir sehr wünschen, dass wir diese Prinzipien der Bindung, des fürsorglichen Alphas und der Macht-im-Dienste-des-anderen grösser denken würden als «nur» in Bezug auf Familien. Vielleicht liessen sich in diesem Text die Begriffe Kind und Eltern/Lehrpersonen einfach austauschen mit Chef*in und Mitarbeitende…?

 

 

* Bindung definieren wir als Trieb oder Beziehung, bei der Nähe angestrebt oder bewahrt wird, wobei mit «Nähe» weit mehr gemeint ist als die physische Nähe (mehr dazu im Blog-Eintrag «Wie wir uns binden»).

Hier der Artikel von Krogerus & Tschäppeler (vom 23.2.2022, Tagesanzeiger)


Quellenangaben

  • Titelbild: https://www.wwf.de/spenden-helfen/pate-werden/eisbaeren-und-klimaschutz

  • alle anderen Abbildung: Simona Zäh (angelehnt an Gordon Neufeld)

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“Das ist so peinlich"! Der rote VW-Bus…

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