«Mein 6-Jähriger lässt sich nichts mehr sagen!»

Wenn Kinder nur noch fordern - Oder: Wo das Problem liegt, wenn sich Kinder nicht mehr an uns orientieren

 
 

«Das klingt ja alles super, nur: Mein 6-jähriger Sohn hört nicht auf mich! Er lässt sich überhaupt nichts von mir sagen! Schon lange nicht mehr! Ich kann ihm nicht mal dabei helfen, seinen Modellflieger zusammen zu basteln...! Er weiss immer alles besser und wenn er dann trotzdem nicht weiterkommt, verwirft er alles und ich darf einen ausgewachsenen Wutanfall ausbaden!»

Ich war etwa 10-Minuten weit mit meinem zweistündigen Workshop, den ich vor ein paar Wochen an einem Elternbildungstag zum Thema Bindung & natürliche Autorität hielt - und einer der Teilnehmer ganz hinten rechts verwarf die Hände.

Was war geschehen?

Ich hatte gerade ausgeführt, dass Bindung – also Nähe & Kontakt – das Grundbedürfnis unserer Kinder ist, und dass wir Bindung brauchen, um für unsere Kinder sorgen zu können. Eben war ich dabei all die Früchte aufzuzeigen, die wir ernten können, wenn die Beziehung zu unseren Kindern stimmt (also bspw. dass sie uns zuhören und folgen, dass sie sich an uns orientieren & uns entsprechen möchten ect.), da platzte dem Teilnehmer der Kragen.

«Dabei erfülle ich ihm alle Wünsche – also, so gut es geht. Gerade habe ich ihm eine Nintendo Switch gekauft. Das ging zwei Tage gut, dann hat er begonnen, die Abmachungen nicht einzuhalten. Und dann hat er zwei Tage nicht mit mir gesprochen. Das ist doch nicht normal! So ein Kind ist doch nicht normal!»

Tja.

Ich versuchte, so gut es ging, auf seine Seite zu kommen: «Ich verstehe, dass das sehr frustrierend ist. Du scheinst dich wirklich zu investieren und ihn lieb zu haben …»

«Das ist es ja. Es scheint mir immer mehr unmöglich, ein solches Kind lieb zu haben. Er lässt sich ja gar nicht lieb haben…!!!»

Ich versuchte ganz sanft aufzuzeigen, dass ich durch meine Brille nicht primär ein Problemkind sehe – wenn auch bestimmt ein Kind mit herausforderndem Verhalten – sondern ein Beziehungsproblem. Doch bevor ich aufzeigen konnte, dass wir Menschen, wenn die Beziehung stimmt, unserem Gegenüber zuhören oder uns an Abmachungen halten - vielleicht nicht immer, aber doch meistens -, und dass Bedürfnisorientierung nicht heisst, dem Kind alle Wünsche von den Lippen abzulesen und alle Forderungen zu erfüllen, hatte er schon abgehängt und sich seinem Handy zugewandt.

Und natürlich verstehe ich das. So eine Sichtweise ist nicht ganz einfach zu verdauen – und manchmal bringt sie so viel Verletzlichkeit mit sich, dass nur die Flucht ins Smartphone hilft.

Dabei ist die Erkenntnis eigentlich ganz banal:

Wenn die Beziehung zwischen Kind und Erwachsenen stimmt, dann hören sie uns zu und können unsere Ratschläge oder Hilfe annehmen, dann wollen sie, dass wir sie mögen und gerne mit ihnen zusammen sind. Und ihnen ist wichtig, was wir von ihnen halten.

Und wenn das alles fehlt, dann stimmt nicht primär mit dem Kind etwas nicht, sondern mit der Beziehung.

Mehr noch:

Wenn wie im obigen Fall das Kind in der Beziehung der- oder diejenige ist, der/die fordert, das letzte Wort hat oder alles besser weiss – und das obwohl das Leben ihm resp. ihr immer wieder das Gegenteil beweist – dann ist die Chance gross, dass das Kind die Führung in der Beziehung übernommen hat.

Und das ist nie gut.

Weder für das Kind noch für uns Erwachsene.

Was tun?

Der erste Schritt ist dem Teilnehmer meines Workshops nicht gelungen - zumindest nicht während meinem Workshop: Zu erkennen, dass nicht das Kind das Problem ist und entsprechend behandelt, gerade gebogen oder therapiert werden muss, sondern dass die Beziehung in Schieflage ist. Das ist nicht ganz einfach und auch nicht ganz schmerzfrei - und vor allem wird so klar, dass der Ball nicht Spezialisten zugespielt werden kann, sondern dass wir selbst gefordert sind. Absolut. Das braucht manchmal auch einfach Zeit (mehr als die Dauern eines Workshops) und oft auch mehr als einen Sprung über den eigenen Schatten…

Der zweite Schritt gleicht dann mehr einem Marathon als einem Sprint (in manchen Fällen auch einem Mehrfachmarathon): Wir müssen das Kind wieder zurück tanzen in die richtige Beziehung zu uns. Auch das ist nicht ganz einfach und immer wieder sehr frustrierend und verwirrend und bedingt - so meine Erfahrung - ein tiefes Verständnis …

  • für die Kraft von Bindung

  • für die Tatsache, dass Kinder liebevolle Führung brauchen;

  • dafür, dass sich Kinder nur an uns orientieren, wenn die Beziehung zu uns sicher ist und wir ihnen nicht nur Wärme, sondern auch Ausrichtung vermitteln - sprich: wenn wir ein starkes Alpha leben.

All das konnte ich dem Kursteilnehmer leider nicht mehr vermitteln: Für die nächsten eineinviertel Stunden war er mit seinem Handy beschäftigt und am Ende des Kurses verschwand er durch den Hinterausgang.

 
 

PS. Wer mehr verstehen möchte über die Entstehung von Alpha-Kindern und vor allem darüber, wie wir sie zurück tanzen und unsere Beziehung wieder auf einen nährenden und tragenden Boden stellen können: Im Mini-Kurs «Alpha-Kinder verstehen - wenn Kinder Chef sein wollen» vom 31. Mai und 1. Juni vermittle ich genau das.

PPS. Und natürlich ist all das und noch viel mehr auch Thema des Jahreskurses «Kinder mit ganzem Herzen begleiten».

Bild: Ben White, Pixabay

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