Pokémons sammeln – ein Kinderspiel?

Seit ein paar Monaten beherrscht gefühlt nur noch ein Thema die Basisstufen-Pausenplätze: Pokémon-Sammelkarten. «Das ist doch einfach ein Spiel, Simona, oder was hältst du davon?»

Auf die Frage meiner Kollegin Maja (Basisstufen-Lehrerin) gehe ich in diesem Blog-Eintrag mit einem Antwort-Versuch ein:

 

Liebe Maja,
versteh mich nicht falsch: Ich liebe die magischen Welten, die Kinder so faszinieren, die sie oft selbst kreieren und in die sie stundenlang eintauchen können – und glaub mir: Ich tauche gerne mit! Auch habe ich keinerlei Berührungsängste mit Monstern, weder mit den grossen «wilden Kerlen» von Maurice Sendak noch mit «Taschenmonstern» wie den Pokémons. Und deshalb sehe ich auch im Sammelkartenspiel der Pokémons durchaus faszinierende Aspekte – doch mein Blick durch die Brille des bindungsbasierten Entwicklungsansatzes zeigt mir eben noch mehr auf - nicht weniger faszinierendes, finde ich.

Ich möchte dich also einladen auf ein paar (Ein-)Blicke durch meine Brille, und zwar auch auf die Gefahr hin, zur Spielverderberin zu werden für dich oder die Kinder deiner Basisstufe – wobei das eigentlich ein schrecklicher Titel für jemanden ist, die wie ich wenn immer möglich für mehr Spiel plädiert. Aber um den Blick für echtes Spiel zu schärfen, muss ich vielleicht unechtes Spiel entlarven und es in dem Sinne verderben…

 

Nichts ist Schwarz oder Weiss – auch nicht bei den Pokémons

Aber erstmal vorneweg: Ja, ich weiss, dass das Pokémon-Kartenspiel eigentlich ein richtiges Spiel mit Spielregeln und so ist, auch wenn ich noch kaum je ein Kind hab spielen sehen – es scheint primär ums Tauschen zu gehen. Und ja, natürlich können Basis-Stüfeler ihre neu erworbenen Lese- und Rechenkenntnisse mit den Karten gleich anwenden. Oder anders gesagt: Nichts ist nur schwarz oder nur weiss, auch nicht bei den farbenfrohen Pokémons! – Aber wie das bei einem Hype so ist, geht oft der Blick für die Schattenseiten verloren – und diesen möchte ich mit unserer Brille schärfen.

 

Wie erkennen wir echtes Spiel?

Schauen wir uns also zuerst mal an, was Spiel – echtes Spiel - ist.

Am offensichtlichsten ist wohl dieses Merkmal: Spiel ist keine Arbeit.

Der Unterschied zwischen Arbeit und Spiel liegt im Fokus:  Bei der Arbeit dreht sich alles ums Ergebnis, beim Spiel um die Aktivität oder den Prozess als solches.

Abgesehen davon ist man/frau/kind beim echten Spielen «frei» - frei zu kommen und zu gehen, es gibt keinen Zwang, der einem in etwas hineindrängt, drin behält oder nicht mehr aussteigen lässt.

Und ausserdem ist echtes Spiel «expressiv» - es ist so angelegt, dass etwas aus unserem Inneren seinen Ausdruck findet. Wenn es «nur» um den Konsum von Inhalten resp. um Unterhaltung geht, ist das für uns kein echtes Spiel (bei den meisten Spielen am Bildschirm ist das bspw. leider so).

Schauen wir uns also die Pokémon-Sammel-«Seuche», wie das ein Junge mir gegenüber mal nannte, durch unsere Brille an. Wenn du dir folgende Fragen stellst, liebe Maja, wirst du für deine Erst- und Zweitklässler selbst Antworten finden:

  • Geht es primär um das Resultat resp. um die prall gefüllte Pokémon-Box oder steht der Spass am Sammeln resp. am Tauschgeschäft an und für sich im Vordergrund? – Wie du das erkennst? Nun, schau mal wie die Kinder auf dich wirken: Sind sie locker und relaxt oder spielt da in Tick zu viel Ernsthaftigkeit und Verbissenheit mit? Wie sieht es nach der Pause aus - können die Kinder die Karten prima beiseitelassen und sich wieder anderem widmen? Und wie dominant ist das Thema in der Freizeit und im Familienleben…?

  • Siehst du etwas «Expressives» beim Pokémon-Sammeln – eigens gestaltete Sammelalben oder selbst entwickelte Spielregeln oder so – oder geht es primär um den Input, die Stimulation oder den Konsum?

  • Und fast noch wichtiger: Sind die Kinder frei zu entscheiden, ob sie beim Pokémon-Hype mitmachen und mittauschen wollen oder nicht? Da musst du genau hinschauen, denn auch wenn wir Erwachsenen das nicht gerne hören: Viele Kinder spüren bei so kollektiven Phänomenen einen inneren Zwang, denn Pokémons nicht «cool» zu finden oder gar auszusteigen hat das Potential, ein Kind zum Sonderling oder Aussenseiter zu machen. «Cool» sind im Moment auf jeden Fall diejenigen mit den vollen Alben.

 

Wofür arbeiten sie denn?!?

Und an dieser Stelle können wir auch gleich auf die Frage eingehen, die du an dieser Stelle sicher aufbringen würdest:

Wofür arbeiten die Kinder denn? – Nun, um dazuzugehören, gleich oder «normal» zu sein oder Wertschätzung zu erfahren (für besonders spezielle Karten oder einen grosszügigen Tauschhandel). – In anderen Worten: Sie sind bindungshungrig und stillen so ihr Bedürfnis nach Nähe und Kontakt.

Jaja, wir alle wollen doch dazugehören und wertgeschätzt werden, das ist doch nicht so schlimm – das habe ich schon so oft gehört. Und natürlich, das stimmt ja auch. Nur müssen wir zwei Dinge beachten:

Zum einen geht es hier um unser aller grundlegendstes Bedürfnis und nicht um irgendeine Nebensächlichkeit oder «Spass»: Wenn das Bedürfnis nach Nähe und Kontakt nicht gesättigt ist, übertrumpft es bei Kindern, die von Natur aus unreif sind (und bei Erwachsenen, die es immer noch sind) alles, wirklich alles*.

Und zum anderen: Wenn unsere Kinder bindungshungrig sind und für Nähe und Kontakt arbeiten müssen, sind ihre Ressourcen naturgemäss gebunden und stehen für all das, was sonst noch ansteht, nicht zur Verfügung – gerade auch für all das, was wir mit dem Begriff «Emergenz» umschreiben: Kreativität, selbstbestimmtes oder intrinsisches Lernen, Eigenverantwortlichkeit etc. Sie sind dann «besetzt» und brauchen alle Ressourcen, um ihr grundlegendstes Bedürfnis (Nähe und Kontakt) zu befriedigen.

  

Wie erkennen wir eine Sucht?

Ich möchte sogar noch einen Schritt weiter gehen und die Frage in den Raum stellen, ob Pokémons zur Sucht werden können? – Hierfür müssen wir uns anschauen, was überhaupt süchtig machen kann:

Ich würde behaupten, dass eigentlich alles süchtig machen kann, was für uns kurzfristig ein Problem löst und somit «funktioniert», das Problem aber nicht aus Welt schafft oder uns zumindest nicht für länger davon befreit.

Und genau das ist das Perfide bei allem, was süchtig macht: Es funktioniert so verd… gut! Fernsehen hilft gegen Langeweile, Gamen ebenfalls, aber sobald der Bildschirm off ist, ist die Langeweile wieder da – also schalten wir ihn wieder ein und voilà: Problem gelöst! Dasselbe gilt für Chunk Food oder Schoggi – sie helfen wunderbar über ein Loch hinweg, allerdings ist das Loch schneller wieder da als der Fastfood verdaut, und deshalb greifen wir nochmals und nochmals zu. Und natürlich gilt das auch für allerlei andere oder härteren Drogen: Sie funktionieren wahnsinnig gut, allerdings nur ganz kurzfristig, also ohne zu nähren.

Und in diesem Sinne kann auch das Pokémon-Karten-Sammeln wie ein Suchtmittel funktionieren:

Es befriedigt während dem Handeln das Bedürfnis der Kinder nach Nähe und Kontakt (also nach gleich/normal sein, dazugehören oder Wertschätzung), aber es nährt nicht, und deshalb müssen es immer mehr Karten und Sammelalben sein! Unser Bindungshunger kann nicht von Karten, sondern nur von echten Menschen gestillt werden - und die Wertschätzung, die Zugehörigkeit und das Gleich-Sein muss uns als Mensch gelten und nicht unserem Sammelalbum.

Jetzt kannst du natürlich mit Fug und Recht einwenden, dass die Nebenwirkungen einer möglichen Pokémon-Sammelkarten-Sammelsucht doch nie und nimmer mit denjenigen einer Alkohol-Sucht verglichen werden können – und da stimme ich dir natürlich zu, liebe Maja.

Und gleichzeitig glaube ich, dass unserer Gesellschaft die Brille für die Nebenwirkungen für solche Phänomene fehlt! Durch meine Brille betrachtet sehe ich nicht nur die fehlenden Ressourcen fürs Lernen oder für Kreativität auf der Liste der versteckten Kosten, sondern auch feststeckende Entwicklungsprozesse.

Aber das ist ein weiteres, grosses Thema, das wir bestimmt ein anderes Mal aufgreifen könnten.

Um also auf die Ausgangsfrage zurück zu kommen:

Das Pokémon-Sammelkarten-Spiel ist aus meiner Sicht nur in den wenigsten Fällen echtes Spiel. Das heisst nicht, dass wir es unseren Kindern verbieten müssen, aber es ist sicher nützlich dafür zu sorgen, dass sie ihren Bindungshunger anderweitig (= bei fürsorglichen Erwachsenen) stillen und immer mal wieder in echtes Spiel finden können – das lindert ihren Beschaffungsstress ;o)

 

* Dass sich Nintendo das zunutze macht, ist kein Geheimnis: Pokémon kann als ein Paradebeispiel eines weltweit erfolgreichen Marketingfeldzugs dienen, denn der Marketing-Mix ermöglichte dem Hersteller Nintendo eine beinahe vollständige Durchdringung des Markts (Stichworte Spiele & Konsole). Der durchschlagende Erfolg der Pokémon-Spiele löste einen der größten Merchandising-Booms der Geschichte aus und Pokémon ist das zweit erfolgreichste Sammelkartenspiel der Welt (Quelle: Wikipedia) Gemäss Statista Im letzten Geschäftsjahr erzielte Nintendo einen Gewinn von umgerechnet rund 3,9 Milliarden US-Dollar.

 

Und: Wie wir den Bindungshunger von kleinen Kindern stillen können, erfährst du entweder in unserer gleichnamigen Podcast-Folge oder ab August im Kurs «Kinder unter 7 verstehen.»

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Vorbeugen ist besser als Heilen!?