Warum meine Kinder oft «uh mega gfruschted» sind

Was hinter Aggression steckt und warum unsere gängigsten Disziplinierungs-Massnahmen nach hinten losgehen.

Worte schaffen Wirklichkeit. Und weil das so ist, sagen wir bei uns zuhause «es fruschted mi uh, dass…» und nicht «i bin mega hässig, will…». Während meinem Studium am Neufeld Institute habe ich nämlich realisiert, dass an der Wurzel von Aggression Frustration steht und dass Aggression nur die schlechteste von verschiedenen Möglichkeiten ist, mit Frustration umzugehen. Warum das so ist und weshalb es Sinn macht, den Fokus auf Frustration zu legen, darum geht es in diesem Blog-Eintrag.

Aber beginnen wir von vorne und schauen uns die beiden Begriffe genauer an:

  • Aggression bezieht sich auf das Lateinische aggressio (Angriff), welches sich vom Verb aggredi (heranschreiten, angreifen) ableitet*. Und da wir Aggression nicht auf der Verhaltensebene beschreiben oder gar messen können (sie kann leise oder laut, nach innen oder nach aussen gerichtet sein, ebenso wie ein Schubsen freund- oder feindschaftlich gemeint sein kann), lässt sich Aggression am besten als Energie verstehen (als «E-motion», als Energie in Bewegung). Aggression ist also ein Ausbruch von Angriffsenergie.

  • Frustration leitet sich vom Lateinischen frustra (vergeblich) resp. frustratio (Täuschung einer Erwartung) ab. Umgangssprachlich brauchen wir «frustriert sein» oft, um eine Gemütslage des Missmuts oder der Verdrossenheit zu beschreiben, doch eigentlich steht Frustration schlicht und einfach für Konfrontation mit Vergeblichkeit. In der Medizin wird das Adjektiv frustran auch genauso gebraucht, bspw. für frustrane (= vergebliche, erfolglose) Wiederbelebungsversuche*.

Ein Leben voller Frustrationen

Frustration ist eine unserer primären Emotionen – ein innerer Trieb, den nicht nur wir Menschen kennen: Auch Säugetiere können «gfruschted» sein, wenn etwas nicht so funktioniert, wie sie das gerne hätten. Und unsere Leben sind voller Frustration, denn es gibt tausend kleine und grosse Dinge, die nicht so funktionieren, wie wir das gerne hätten: das leere Nutella-Glas am Morgen früh, der Regen im Camping-Urlaub, der Zug, der wieder zu spät ist, die Kinder, die abends nicht ins Bett wollen, resp. die Eltern, die viel zu früh den Feierabend ausrufen, die grosse Schwester, die immer bestimmen will, das Lego-Schwert, das dauernd auseinanderfällt oder die Tatsache, dass Papa vor dem Schlafen nur ein Kapitel aus Nils Holgerson vorliest, auch wenn es mal wieder so spannend ist… – Frustration begegnet uns und unseren Kindern täglich.

Und Frustration ist eine wunderbare und wunderbar potente Emotion, denn in ihr steckt der Antrieb, um Dinge zu ändern. Zahlreiche, wenn nicht alle grossen Errungenschaften und Erfindungen unserer Geschichte gehen auf Frustration zurück – auf Menschen, die ob dem Bestehenden «gfruschted» waren und die versucht haben, das zu verändern.


Frustration bietet Handlungsspielraum

Frustration steht also an der Wurzel von Aggression – und es lohnt sich, das im Auge zu behalten, denn wenn wir den Fokus auf die Frustration legen statt auf den Ausbruch an Angriffsenergie, spannt sich vor uns ein Handlungs-Spiel-Raum auf! Auf Frustration, also auf Dinge, die nicht so funktionieren, wie wir sie gerne hätten, können wir auch anders reagieren als mit Ausbrüchen von Angriffsenergie:

  • Wir können versuchen zu verändern, was uns nicht passt: eine neues Glas Nutella aus dem Vorrat holen, das Legoschwert nochmals neu und stabiler bauen oder den Papa überreden, noch ein weiteres Kapitel zu erzählen.

  • Ganz oft können wir aber nichts ändern – wenn Petrus die Stossgebete aus dem Zelt nicht erhört oder kein Glas Nutella vorrätig resp. Papa nicht umzustimmen ist. Dann haben wir die Möglichkeit, die Vergeblichkeit zu fühlen und somit einsinken zu lassen wir werden also verändert durch die Dinge, die wir nicht ändern, sondern nur betrauern können (am Beispiel des Todes einer geliebten Person – der ultimativen Vergeblichkeit – wird das gut ersichtlich).

Wenn wir diese beiden Möglichkeiten nicht wahrnehmen (können), steigen in uns Angriffs-Impulse auf – und wenn wir gerade nicht fähig sind, diese Impulse zu mässigen, in dem wir sie mit anderen Elementen «mischen» (den Impuls, die kleine Schwester, die immer alles kaputt macht, zu schlagen, mit dem Gefühl der Fürsorge für sie), dann bricht als letzte Möglichkeit der Vulkan aus, leise oder laut, gegen innen oder gegen aussen gerichtet.


Der Umgang mit Frustration will gelernt sein

An der Wurzel jeder Aggression steht also Frustration und ein Vulkanausbruch bei unseren Kindern deutet darauf hin, dass sie die Vergeblichkeit, der sie begegnet sind, nicht fühlen (sei es die Tatsache, dass der Regen nicht aufhört, der Tag viel zu früh zu Ende ist oder dass es heute keine Nutella gibt) und dass sie gleichzeitig die Angriffsimpulse nicht mässigen können. In der Kurzformel: Sie können mit der erfahrenen Frustration nicht umgehen. Der Job von uns Erwachsenen sollte also sein, ihnen zu helfen, mit den Vergeblichkeiten (Frustrationen) des Lebens umzugehen, ihnen also je nach Kind und Neigung zu mehr «Veränderungsenergie» oder zu mehr «Fühlen der Vergeblichkeit» (also zu mehr «Tränen der Vergeblichkeit») zu verhelfen oder die Angriffsimpulse mit mässigenden Elementen zu mischen…


Warum der Schuss oft nach hinten losgeht

Das sollte unser Job als Erwachsene sein, doch wenn wir uns exemplarisch eine unsere gängigsten Disziplinierungs-Massnahmen für aggressive Kinder anschauen, dann wird es paradox: Wenn der Vulkan unserer Kinder explodiert, weil es heute keine Nutella gibt, liegt uns sehr schnell auf den Lippen zu verkünden, dass es angesichts dieses Ausbruchs gleich für die nächsten Tage keine Nutella mehr gibt. Oder wir drohen Kindern, die um halb 10 Uhr abends den Aufstand proben, da sie noch nicht ins Bett, sondern weiter draussen spielen wollen, damit, dass sie für den Rest der Woche um 8 Uhr ins Bett müssen, wenn sie jetzt nicht gleich parieren… Unsere Kinder begegnen also einer Frustration, mit der sie nicht umgehen können – und was machen wir Erwachsenen? Wir erhöhen die Frustration!!! Und glauben wohl auch noch, dass unsere Kinder dadurch lernen, besser damit umzugehen! – Frei übersetzt würde das dann so tönen: «Was, du tobst, weil du heute nicht länger draussen spielen darfst?!? – Dann probier’s mal damit: Du gehst für den Rest der Woche um 8 Uhr ins Bett! Wie ist das – kannst du nun damit umgehen?!?»

Solche Massnahmen mögen kurzfristig Erfolg haben, doch auf lange Sicht sind die Auswirkungen verheerend: Nicht nur lernen wir unseren Kindern nicht mit Frustration umzugehen, wir verletzen sie auch und tragen dazu bei, dass sich ihre Herzen panzern (die Vorstellung, an lauen Sommerabenden nicht mehr draussen spielen zu können, ist zu verletzend als dass ein Kind das wirklich fühlen könnte - also dämpfen sie ihre Emotionen oder panzern sich dagegen). Und last but not least setzen wir auch unsere Beziehung und unsere natürliche Autorität aufs Spiel: Wie sollen unsere Kinder uns vertrauen und in unserer Fürsorge zur Ruhe kommen, wenn wir das, was ihnen wichtig ist, gegen sie verwenden? – Und vonwegen “kurzfristiger Erfolg”: Je älter unsere Kinder werden, desto weniger Erfolg ist diesen Massnahmen beschieden, denn ältere Teenager werden sich einfach darüber hinwegsetzen und auf Konfrontation gehen – Machtkämpfe vorprogrammiert.


Worte schaffen Wirklichkeit – und «Frustration» schafft Handlungsspielraum

Seit ich dank der Brille des bindungsbasierten Entwicklungsansatzes hinter die Kulissen der Aggression sehe, machen die meisten Disziplinierungs-Massnahmen, denen wir unsere Kinder aussetzen und die wir bspw. auch in unseren Schulen anwenden, keinen Sinn mehr. Diese Sichtweise auf Aggression/Frustration leuchtet den meisten Erwachsenen ein - zumindest all jenen unter uns, die nie auf die Idee kommen würden, ihrem Partner, dessen morgendliche Laune im Keller ist, weil der Kaffee-Vorrat aufgebraucht ist, damit zu drohen, dass es für den Rest des Monats für ihn keinen Kaffee mehr gibt, wenn er nicht sofort aufhört herum zu stänkern. Warum nur machen wir es bei Kindern anders…?

Mit Worten schaffen wir also Wirklichkeiten, und genau deshalb sprechen wir – mein Mann und ich und in unserem Fahrwasser unsere Kinder – oft von Frustration. Wir sagen also bspw. (manchmal durchaus auch laut): «I bin henne gfruschted, dass es kei Kafi/kei Nutella meh hät – i han mi soo druf gfreut/i brüüchti so dringend en Kafi». Das lenkt den Fokus auf die Wurzel des Problems und zeigt uns Handlungs-Spiel-Räume auf, um anders mit den tausend kleinen und grossen Vergeblichkeiten des Lebens umzugehen als mit einem Ausbruch von Angriffs-Energie.

 



PS. Was es sonst noch zum Thema Aggression-Frustration zu sagen gibt und welche anderen Wege es gibt, um mit der Aggression unserer Kinder umzugehen – darum geht es in unserem Mini-Kurs «Aggression verstehen».


 * angelehnt an www.wiktionary.org

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