Wie Frau B. so böse wurde

… und warum sie nun wieder nett ist. - Ein Buch über Trauma, Heilung und die Wundermittel «Tränen» und «Spiel».

 

Sonja Bougaeva: Wie Frau B. so böse wurde …
© 2014 Atlantis Verlag, Zürich

 

Ich mag es, wenn Kinderbücher die ganz grossen Themen des Leben aufgreifen. Und wenn sie das mit ebenso aussagestarken wie liebevollen Bildern tun und der Text so formuliert und dosiert ist, dass ganz viel Zeit zum Wirkenlassen, Staunen, Nachdenken und ja, auch zum Lachen bleibt, dann steht das Buch weit oben auf meiner Hitliste.

Das Buch über Frau B. ist genau so ein Buch. Es schaut hinter die Kulissen einer chronisch wütenden alten Frau, die Kinder hasst und vor der sich alle fürchten, auch die Erwachsenen. Auf einfühlsame Art und Weise erzählt Sonja Bougaeva, dass Frau B. nicht immer so böse und unfreundlich war: Als sie noch nicht Frau B., sondern noch Katja hiess, erlebte sie oft Gemeinheiten von anderen Kindern, darunter auch solche, die durchaus in die Kategorie «Trauma» fallen können (aber nicht «müssen»).

Bei solchen kleinen und grossen Ungerechtigkeiten kann jedes Kind andocken und wenn Katja draussen im Dunkeln vergessen und alleine gelassen wird, sehe ich in den Augen meiner Kinder, dass sie bis in die Zehenspitzen mitfühlen können, wie das sein muss - diese ultimative Trennungserfahrung, die ganz grosse Bedrohung für kleine und grosse Menschen.

Diese Erfahrungen alleine reichen aber nicht aus, um aus der kleinen Katja die böse Frau B. werden zu lassen. Es braucht die Mutter, die Katja kein offenes Ohr schenkt, sondern sie zum Schweigen verdonnert. So alleine gelassen mit ihrem Schmerz und ohne sicheren Raum, um zu ihren Tränen zu finden und die schwierigen Erfahrungen zu integrieren, sammelt sich ihr Zorn, Tag für Tag, Jahr für Jahr.

Oder um es in Gabor Matés Worten* zu sagen:

«Trauma ist nicht das, was dir passiert. Es ist das, was in dir passiert,
als Ergebnis dessen, was mit dir passiert.»

Das Buch zeigt aber auch ganz wunderbar auf, dass Traumata auch viele Jahre später noch integriert werden können. Eines Tages, als Frau B. auf einer Bank beim Spielplatz strickte, um so bequemer Kinder zu hassen, geschieht es: Als ein kleines Mädchen von den älteren Kindern unfair behandelt wird und die Mutter sich nicht um die Probleme und den Schmerz des Mädchens kümmert, spürt Frau B. etwas ganz Ungewöhnliches. Das ist die Passage, die meinem Sohn so besonders gefällt, …

«… weil man sieht, wie Frau B. sich fühlte als Kind und wie sie jemanden gebraucht hätte. Und weil man dann sieht, dass Frau B. das eigentlich schon noch weiss, weil sie sieht ja, dass die Mutter dem Sandkasten-Mädchen auch nicht schaut und wie es dann dem Mädchen geht. Und dann sieht man, was das in ihr auslöst und das ändert dann alles.»

Frau B. spürt also den Schmerz und die Einsamkeitin des Mädchens und etwas in ihr klingt an, bringt sie ins Fühlen und sogar zu ihren Tränen. Sie, die bis anhin von Hass getrieben und von ihren Emotionen getriggert war, wagt sich langsam vor DAS zu fühlen, was so lange und so tief in ihr verschüttet war und was all die Jahre zu schmerzhaft war, um es anzuerkennen und zu betrauern. Und mit dem Fühlen und den Tränen beginnt der Prozess der Heilung…

Frau B. sitzt dann am nächsten Tag ganz früh beim Spielplatz und wartet auf das Mädchen. Sie setzt sich neben sie und lädt das Mädchen mittels Sandkuchen ins gemeinsame Spiel ein, aus dem in Kürze nicht nur eine riesige Sandburg, sondern auch gemeinsame Versteck- oder Puppen-Spiele werden. Spiel entfaltet hier seine ganze Kraft, denn im Spiel kann Frau B. in die Rolle eines fürsorglichen «Alphas» schlüpfen, das sich kümmert und das ihr selbst so bitterlich fehlte; im Spiel findet sie zurück zu ihren Gefühlen und Spiel öffnet ihr Herz nicht nur für das kleine Mädchen, sondern vor allem auch für ihre eigene Verletzlichkeit. Mit dem Resultat, dass Frau B. wieder ins Leben findet, was meiner jüngsten Tochter so gut gefällt:

«Dass Frau B. zum Schluss so fröhlich und freundlich ist und die Treppe runter rutscht und der Nachbar und sein Hund jetzt so komisch schauen, das ist superlustig!»

Wie gesagt, ich liebe es, wenn Kinderbücher die ganz grossen Themen des Lebens aufgreifen: Trauma, Panzerung, Aggression und dann der wunderbare Weg zurück ins Fühlen und ins Leben, beflügelt von der Magie des Spiels und der Kraft der Tränen.

In diesem Buch steckt nicht nur sehr viel Weisheit, sondern auch die Möglichkeit, das Herz zu öffnen für die übellaunige Turnleiterin, den grantigen Lehrer oder die griesgrämige Nachbarin. Oder in den Worten meiner Ältesten:

«Mir gefällt, dass man sieht, wie man sich verändert, obwohl man das eigentlich gar nicht will. Dass man nicht mehr nett ist als Erwachsene, einfach weil man in der Kindheit von anderen verletzt wurde. Und dass das alles geschieht, ohne dass man das will! Und wie man dann sieht, dass Frau B. eigentlich gerne leben würde und wie sich selber bestraft und gefangen ist in diesem Hass. Und dass dann am Schluss ihre Schale aufspringt und sie dem Mädchen helfen kann, damit es später keine Frau B. wird, obwohl sie dasselbe erlebt.»


Ein wunderbares Buch also, um die grossen Themen mit Kindern nicht nur zu thematisieren, sondern auch mitzufühlen.

 

* Gabor Maté, Autor von «The Wisdom of Trauma

PS. Kennst du schon unsere Serie «Kinderbücher durch die bindungsbasierte Brille» mitsamt unserem Plädoyer für Vorlesekulturen?




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