Bedürfnisorientiert? Ja, natürlich! Nur…
Wie «Bedürfnisorientierung» durch die bindungsbasierte Brille aussieht - Oder: Wie und warum Eltern im Bindungstanz mit ihren Kindern ausbrennen (ein Erklärungsansatz)
In meinen Beratungen spielen sich immer wieder ähnliche Situationen ab: Mein Gegenüber (meistens die Mama) gibt mir einen Einblick in die Entwicklung der Kinder, beschreibt die aktuellen Herausforderungen… und irgendwann fällt dann dieser Satz, der mich hellhörig werden lässt:
«Wir haben natürlich immer versucht, sehr bedürfnisorientiert unterwegs zu sein…»
Du fragst dich, warum ich hier hellhörig resp. stutzig werde? Und du denkst, eigentlich ist es doch wünschenswert, dass wir Eltern unsere Kinder bedürfnisorientiert begleiten, oder etwa nicht…? Wie sonst soll aus einem Säugling dereinst ein:e Erwachsene:r werden mit einem Gespür für sein Selbst und seine eigenen Bedürfnisse, wenn wir ihm/ihr schon von klein auf unseren Fahrplan überstülpen, die Marschrichtung vorgeben und bspw. nach Plan stillen oder füttern?!?
Ja, selbstverständlich ist das alles richtig, nur glaube ich, dass da viele von uns etwas falsch verstanden haben. Aber der Reihe nach:
Ja, wir Erwachsene sind dazu da, die Bedürfnisse unserer Kinder zu erkennen und zu stillen - und der Fokus sollte dabei auf beidem liegen: Auf dem Erkennen ebenso wie auf dem Stillen.
Erkennen heisst für mich, wirklich hinschauen, sich nicht täuschen lassen von dem, was die Kinder, die Werbung oder die Schwiegereltern suggerieren, sondern hinter die Kulissen des Vordergründigen blicken und zum Kern des Bedürfnisses vordringen.
Und mit Stillen meine ich, ein Bedürfnis möglichst nachhaltig zu sättigen und das Kind so zu nähren, dass es für eine gewisse Zeit von dem Bedürfnis befreit ist und «zur Ruhe kommen» resp. seine Ressourcen in seine eigene Entwicklung «investieren» kann (was auch uns Eltern zu mehr Ruhe verhilft).
So weit so gut, nur wie erkennen wir die wahren Bedürfnisse hinter den Forderungen unserer Kinder?
Warum das Lesen der wahren Bedürfnisse so schwierig ist
Dazu braucht es aus meiner Sicht in erster Linie eine banale, aber in ihrer Konsequenz ziemlich anspruchsvolle Erkenntnis: Kinder sind von Natur aus unreif (das ist der banale Teil) und deshalb brauchen sie reife Erwachsene, die sie begleiten und ihnen Orientierung geben – und das ist der herausfordernde Teil. Und zwar aus mindestens diesen Gründen:
Kinder sind von Natur aus impulsiv – das Mischen von zwei widersprüchlichen Gedanken oder Gefühlen gelingt ihnen noch nicht so gut resp. je nach Alter oder Reife überhaupt noch nicht. Das führt dazu, dass sie uns ihre Wünsche meist mit einer unerschütterlichen Sicherheit präsentieren, so im Sinne von: «Ich will genau das und nur das und zwar jetzt, alles andere hat mich noch nie interessiert und wird mich nie interessieren! Nun mach schon, Mama, ich will und brauche es jetzt!» - Diese Klarheit kann uns durchaus erschüttern, denn wir Erwachsene kennen das kaum noch: Unser Alltag ist voller innerer Widersprüche («Ich liebe meine Kinder von ganzem Herzen UND GLEICHZEITIG kann Mama-Sein wahnsinnig frustrierend sein») – und das ist gut so, denn es zeugt von Reife. – Wir dürfen uns von dem mit doppeltem Nachdruck formulierten Wunsch unseres Kindes also nicht blenden lassen: Es nimmt im Moment schlicht und einfach nichts anderes wahr als genau das – und es ist gut möglich, dass seine Welt in wenigen Augenblicken anders aussieht.
Kommt dazu, dass frustrierte kleine Kinder grosse – ganz grosse! – Emotionsausbrüche haben, weshalb das Beharren auf der Erfüllung eben dieses einen Wunsches von jeglichen Formen von Aggression flankiert werden kann. Und das ist für uns Erwachsene nicht nur wahnsinnig anstrengend, es kann auch irreführend sein im Sinne von: «Es muss ihm schon extrem wichtig sein, wenn er so darauf besteht und das einen so grossen Sturm in ihm verursacht!» - Aber aufgepasst, das ist falsch gedacht! Hinter einem Aggressionsausbruch oder hinter unnachgiebigem Fordern steckt oft etwas anderes.
Als ob das nicht schon genug wäre, sind unsere Kinder mit zunehmendem Alter auch einem enormen Druck von aussen ausgesetzt, den manche von ihnen in Form von «fremden Bedürfnissen» nach Hause tragen,
sei es durch Gleichaltrige, wo bindungshungrige Kinder unbedingt dazugehören möchten und uns deshalb mit «Bedürfnissen» konfrontieren, die nicht wirklich ihre eigenen sind;
sei es durch eine wahnsinnig komplexe und effektive Marketing-Maschinerie, die bis ins Detail weiss, wie man in Kindern Wünsche und Begehren wecken kann.
Der schwierigste Teil hat aber mit uns selbst zu tun: WIR müssen in uns den Ort finden, wo wir die Frage beantworten können, was unser Kind im Moment wirklich braucht – mit all der Verantwortung, all den Unsicherheiten und mit all den Konsequenzen, die das mit sich bringt! Unsere Kinder können das in den allermeisten Fällen noch nicht. Natürlich haben sie einen eigenen Willen und den sollten wir ihnen auch nicht abtrainieren, sondern ihm bspw. in ganz viel freiem Spiel oder in geeigneten Situationen Raum geben (das klassische Beispiel: «Welche Socken möchtest du heute anziehen - die roten oder die blauen?»). Aber überall dort, wo es um Bindung und vor allem um «Bindungshunger» geht resp. wo Fürsorge gefragt ist, können und vor allem sollen sie das noch nicht - mehr dazu gleich.
Zuerst möchte ich noch verdeutlichen, dass diese Frage nach den im Moment wahren Bedürfnissen gar nicht so einfach ist, wie sie auf den ersten Moment klingt - und das nicht nur, weil sie Verantwortung, Schuldgefühle und potentielle Wutausbrüche der Kinder nach sich ziehen kann: Wenn wir ehrlich sind, scheitern auch wir Erwachsene selbst des Öftern an dieser Herausforderung! Wir greifen bspw. zu Zigarette oder Handy, wenn wir nervös sind und eigentlich (innere) Ruhe bräuchten oder wir posten und scrollen auf resp. durch Social Media, wenn wir bindungshungrig und auf der Suche nach Zugehörigkeit oder Wertschätzung sind. Denn das mit den wahren Bedürfnissen kann eine ganz verletzliche Angelegenheit sein und gleichzeitig setzt unser Wirtschaftssystem daran, dass wir unsere wahren Bedürfnisse (nach Verbundenheit, bspw.) mit Dingen, Handlungen oder Dienstleistungen besänftigen, die nicht «stillen», sondern nur den Hunger nach mehr wecken.
Was sind denn nun die wahren Bedürfnisse von Kindern?
Aus unserer Sicht haben Kinder vor allem vier ganz grundlegende Bedürfnisse – und wenn wir die auf dem Radar haben, haben wir schon mal für das Allerwichtigste gesorgt. In der vierteiligen Podcast-Serie «Was Kinder wirklich und unbedingt brauchen» haben wir sie ausführlich beschrieben, in der Kurzfassung sind es:
Bindung resp. Nähe und Verbundenheit im Sinne von Bindungshunger und dem Bedürfnis in Kontakt oder gleich zu sein, dazuzugehören, wertgeschätzt, geliebt und/oder wirklich gesehen zu werden.
Emotionen, resp. die Möglichkeit, alle Emotionen, die in ihnen sind und sie ausmachen, auszudrücken, sie kennen und benennen zu lernen und sie in einem sicheren Raum zu fühlen.
Ruhe, das heisst die innere Ruhe und die innere Freiheit von Arbeit (Bindungsarbeit!), die unseren Kindern ermöglicht, sich zu regenerieren resp. etwas Eigenes zum Ausdruck zu bringen
Echtes Spiel
Wie wir die Bedürfnisse von Kindern stillen
Nun, da wir die wahren Bedürfnisse erkannt haben, wartet aber die eigentlich Knacknuss auf uns. Und die lautet: Der Bindungstanz zwischen Eltern und Kind kann nur dann gelingen und erfüllend sein, wenn beide Tanzpartner ihren Part übernehmen: Wir Eltern führen im Tanz und bieten Fürsorge an und unser Kind sollte sich führen und «für-sorgen» resp. versorgen lassen.
Für uns Eltern heisst das, dass wir unserem Kind neben Wärme und Liebe auch Halt, Sicherheit und Orientierung anbieten – und das tun wir nicht, wenn wir nach seiner Pfeife tanzen, wenn uns jeder Hauch eines Wunsches heilig und somit Befehl ist oder wir es gefühlte 1000 Mal pro Tag fragen, was es möchte, was es braucht oder überhaupt was mit ihm los ist!
Kinder brauchen und suchen Orientierung, einen «compass point» im Leben – und zwar schlicht und einfach weil sie noch unreif sind.
Wer das gerne besser verstehen möchte, dem empfehle ich dieses Video:
Die Krux dabei: Es gibt hierfür keine Technik, die wir lernen können! Es ist eine Frage der inneren Haltung und hierfür gibt es keine Schritt-für-Schritt-Anleitung wie bei einer Waschmaschine– wir müssen uns dorthin fühlen. Und zwar auch dann, wenn wir es uns nicht zutrauen, es noch nie gemacht haben oder weit und breit keine Vorbilder zu finden sind. Das ist für viele von uns nicht einfach – und obendrauf ist es eine sehr verletzliche Angelegenheit: Wir übernehmen so die volle Verantwortung und damit einher gehen auch potentielle Schuldgefühle. Davor scheuen zu viele von uns zurück und übergeben lieber dem Kind den Lead und somit letztlich auch die Verantwortung - wobei auch das ein Trugschluss ist, denn wir Eltern sind immer verantwortlich, und zwar nicht nur für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun!.
«Read the need and take the lead»
Gordon Neufeld’s Zitat fasst die Essenz des Gesagten wunderbar zusammen, nur leider übersetzt es sich nicht so hübsch ins Deutsche («Lies das Bedürfnis und übernimm die Führung»): Um unsere Kinder wirklich bedürfnisorientiert zu begleiten und uns nicht von ihren momentanen Wünschen oder Gelüsten leiten zu lassen, müssen wir hinter die Kulissen schauen und dann in einem zweiten Schritt die Führung im Tanz übernehmen.
Um den Kreis zu schliessen und nochmals auf mein Aufhorchen und Hellhörig-Werden vom Anfang zurückzukommen: Wenn wir die Führung nicht oder nicht genügend überzeugend übernehmen, kommen wir aus dem Tritt und finden uns in zehrenden und mühsamen Bindungstänzen wieder:
Im «Tanz der Frustration» hat das Kind entschieden, dass die/der Erwachsene in der Führungsrolle nichts taugt, weshalb das Kind selbst den Lead übernommen hat. Das ist für den Erwachsenen unglaublich frustrierend und mindestens ebenso erschöpfend: Egal was und wie viel sie/er anbietet, es ist das Falsche oder reicht eh nicht. Kein Wunder, dass wir hier ausbrennen!
Des Öftern landen solche Konstellationen beim Tanz des Wettbewerbs - und dass der keinem der beiden Tänzer:innen auch nur in irgendeiner Weise Spass macht und für beide Seiten so ressourcenzehrend, verletzend und überfordernd ist, dass sie das Bindungsseil zwischen sich irgendwann loslassen, liegt auf der Hand.
Deshalb gilt: Bedürfnisorientiert? Ja, natürlich! Nur bitte: Read the need and take the lead!
PS. Wenn du mehr darüber Wissen möchtest, wie wir die wahren Bedürfnisse von Kindern erkennen und vor allem auch stillen können: Der Intensiv-Kurs «Kinder verstehen» vermittelt genau das.
Und wenn du dich im Tanz der Frustration wiederfindest und glaubst, ein Alpha-Kind zu begleiten, dann ist vielleicht der Mini-Kurs «Alpha-Kinder verstehen» für dich?
* Um Diskussionen vorzubeugen: Ich bin sehr für das Stillen nach Bedarf bei Säuglingen, allerdings sollten wir ab einem Alter von plusminus 8-10 Monaten beachten, dass das Kind eine gewisse Selbstwirksamkeit entwickelt. Genauer haben wir das in dieser Podcast-Folge hier beschrieben.
Bilder by StockSnap (Pixabay) und Simona