«Liebi Uroma, du bisch jetz nüme da…»

Wie ich meine Kinder die Trauer um meine Grossmutter erleben lasse und liess – Oder: Wann und warum meine Kinder meine Tränen sehen dürfen

 
 

Heute ist es auf den Tag genau drei Jahre her, dass meine Oma im hohen Alter von 92 Jahren ihren letzten Atemzug machte und sich ihr Lebenskreis hier auf Erden schloss.

Für mich war sie definitiv mehr als einfach eine «Grossmutter»: Vor allem in meinen jungen Jahren war sie eine unglaublich wichtige Stütze in meinem Leben und sie blieb bis über das Einsetzen der Demenz hinaus ein aktiver Teil darin, auch in demjenigen meiner Kinder. Unvergesslich ist für mich bspw. die wunderbare Entwicklungs-Koinzidenz, als sie nach einer Hüftoperation mit meiner damals zweieinhalb Jahre alten Tochter und ihrem «Dökterli-Koffer» im Spitalbett sass und sie sich gefühlte 1000 Mal den Blutdruck und Fieber messen liess: Für meine Tochter war es wohl ein Wunder, dass jemand so viel Geduld hatte – und meine Oma staunte bei jedem Messen von neuem darüber, was für gute Ideen meine Tochter doch hatte ;o)

Ansonsten konnte sie alters- und demenzbedingt nicht mehr die prägende Ur-Oma-Rolle für meine Kinder einnehmen, die sie sich selbst und ich mir für meine Kinder gewünscht hatte. Der Höhepunkt unserer Besuche im Alters- und Pflegeheim war nicht mehr so sehr die vergessliche und gebrechliche «Oma», als vielmehr die spannenden Organisationsabläufe und die sagenhaften Glace-Coups, die es dort gab. Trotzdem spielte meine Oma eine Rolle im Leben meiner Kinder – und das tut sie auch über ihren Tod hinaus.

So absehbar und von ihr selbst auch herbeigesehnt ihr Tod war, so traurig war ich damals vor drei Jahren: Ich war mit allen drei Kindern zuhause, als der bereits erwartet Anruf mit der endgültigen Nachricht aus dem Appenzellerland kam. Natürlich hatten wir bereits in den Tagen und Wochen zuvor über ihr Sterben und überhaupt über das grosse Thema «Tod» gesprochen und ich hatte mir Zeit genommen für all die grossen Fragen, die das alles in meinen Kindern generierte. Und ja, ich liess meine Kinder an diesem Mittwochvormittag vor drei Jahren meine Tränen sehen, auch die Tränenseen.

Wann sollen wir unsere Tränen zeigen?

Oft werde ich gefragt, ob wir unseren Kindern unsere eigene Trauer denn zumuten können. Ich bin der Meinung, dass wir das unbedingt dürfen und auch sollten – wenn zwei Bedingungen erfüllt sind:

  1. Die Trauer hat nichts mit den Kindern zu tun - und zwar so eindeutig klar nicht, dass auch das Kleinkind-Hirn, das dazu tendiert, alles persönlich zu nehmen und sich selbst als Verursacher zu sehen, keine Verbindung herstellen kann. - Das war im Fall meiner Grossmutter geben. Wenn wir als Mamas oder Papas aber bspw. im Alltag aus Erschöpfung Weinen ist es das nicht: Auch wenn wir das Gegenteil behaupten, vermuten Kinder hier eine Verbindung zu ihnen.

  2. Die Trauer reisst mir nicht den Boden unter den Füssen weg. Meine Kinder sehen mich selten in Tränen aufgelöst und eine solche Erfahrung kann für sie sehr verunsichernd und alarmierend sein. Deshalb ist es wichtig, dass ich meinen Kindern durch meine Tränen hindurch zu verstehen geben kann, dass alles okay ist mit mir und ich immer noch «im Alpha» bin. – Das war in der Zeit rund um den Tod meiner Grossmutter so. Sollte das in einer anderen Situation nicht gegeben sein, würde ich meine Tränen vor meinen Kindern unterdrücken und – ganz wichtig – sie später fliessen lassen, wenn meine Kindern nicht dabei sind.

 

Ich habe meine Kinder aber nicht nur in den Wochen um den Tod meiner Oma meine Trauer sehen und spüren lassen. Das Thema Abschied und Loslassen bewegt meine Kinder (alle Kinder!) ja auch im Alltag und da meine Oma immer noch Teil unseres Lebens ist und wir ab und an über sie reden, kommt auch regelmässig die Frage oder Feststellung: «Gell, Mama, du bisch truurig, dass dini Oma gstorbe isch?» Und hier ist es so wichtig, dass wir nicht so tun, als ob uns das alles nicht mehr berührt - aus welchen Gründen auch immer wir dazu neigen mögen (weil wir gerade keinen Raum für Trauer haben, unsere Kinder nicht traurig machen oder mit etwas Schwerem belasten wollen etc.). – Nein, ich antworte dann immer: «Ja, ich bin immer noch sehr traurig, dass sie nicht mehr da ist». Und dann folgt eine Kunstpause, bevor ich in etwa so weiterfahre: «Und gleichzeitig weiss ich auch, dass das der Lauf des Lebens ist und in meinem Leben gibt es ja so viel Schönes.»

Warum meine Kinder meine Tränen sehen dürfen

Dass das Thema Tod, Abschied oder ganz spezifisch meine Oma meine Kinder immer mal wieder beschäftigt, sehe ich auch daran, dass sie mich immer mal wieder bitten, das «Uroma»-Lied zu spielen, dass ich nach ihrem Tod mit meinen rudimentären Gitarren-Kenntnissen für sie komponierte:

Liebi Uroma, du bisch jetzt nüme da.
De Kreis het sich gschlosse und d’Stund isch cho zum Gah
Mir wüssed dass mir di gar nieme wärded gseh,
das macht üs schampar truurig und s’Herz das tuet üs weh.

Und jetzt liebi Uroma stönd mir Urenkel da,
mir sind no chli z’chli zum das alles ganz z’verstah.
Mir wüssed eifach, dass d’Mama dich fescht gern het gha
und dass mir di au i üsi Herz hend ine lah.

Dieses Lied haben wir nach der Beisetzug auf ihrem Grab gesungen haben und ich bin sicher, dass meine Kinder mich bitten, es zu spielen, weil sie genau wissen…

… dass spätestens bei der vierten und letzten Strophe eine dicke Träne meine Backe runterkullern wird. Und dass wir dann wieder darüber sprechen, wie es sich anfühlt, jemanden zu verlieren, und - ganz wichtig - dass Freude und Trauer eben zusammengehören und dass ich den Tod meiner Oma nur deshalb beweine, weil ich sie so lieb hatte und habe.

Das ist der eine Grund, warum ich finde, dass Kinder unter den oben beschriebenen zwei Bedingungen unsere Tränen sehen sollten: Weil Trauer und Erfüllung zwei Seiten derselben Medaillen sind und weil dieses Verständnis so grundlegend ist für unsere Leben.

Der andere Grund kommt an Tagen wie diesem zum Tragen, wenn wir die grosse Kerze vom Buffet und die Foto-Collage, die ich meiner Oma einst zum Geburtstag geschenkt habe, vom Estrich holen, und wenn mich meine Kinder bitten, die längst bekannten Anekdoten ein weiteres und noch ein Mal mehr zu erzählen. Und natürlich stimmten wir gerade auch heute das «Uroma»-Lied an und ja, die Tränen sind bei mir auch heute schon die Backe runtergekullert. Und das ist ganz okay und sogar gut so, …

… denn so vermittle ich meinen Kindern, dass Trauer und Tränen auf ganz natürliche Art und Weise zu unserem Leben gehören und gezeigt werden dürfen - nicht «nur» nach dem Erhalt einer Todesnachricht oder während einer Beerdigung. Und das ist wichtig, denn in diesen Tränen der Vergeblichkeit liegt der Schlüssel zur Resilienz verborgen – und unsere Kinder darin unterstützen, diese zu entwickeln, scheint mir eine Hauptaufgabe von uns Eltern zu sein.

Also gehe ich als Beispiel voran…

 … und stimme nun, wo die Kinder längst im Bett sind, noch ein weiteres Mal das «Uroma-Lied» an,

 
 
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«Habakuk! S’git Buchweh wenn i d’Wuet verschluck!»

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Erinnerungen - Auf den Spuren der Emergenz